Hongkong

Reiseberichte Hongkong

Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

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Ein neuer Freund

Aber in Hongkong wird Tom abgeholt. Wang Tschi=ping, ein gleichalteriger chinesischer Junge, der Sohn eines Geschäftsfreundes von Vater Birkenfeldt, holt Tom von der "Elbestrand" ab. Wang hat schon die Fahrkarten besorgt, mit denen die beiden auf einen englischen Dampfer nach Schanghai fahren sollen. "Daß du aber Tom heil bei seinem Vater ablieferst!" sagt Kapitän Ohlsen auf Englisch zu Wang. Der aber antwortet in fließenden Deutsch: "darauf können sie sich verlassen, Herr Kapitän! Schon morgen geht ein Dampfer der China=Navigation=Linie nach Schanghai weiter, und bis dahin werden wir in Hongkong nicht allzuviel Unsinn anstellen!" Die "Elbestrand" liegt im Hafen vor Anker. Mit dem Motorboot des Frachtmaklers, mit dem Wang an Bord gekommen ist, fahren die Beiden zur Blake Landungsbrücke. Das ist eine von vielen Anlegestellen an der Connaught Road, der drei Kilometer langen Uferstraße der Millionenstadt Hongkong. In Wangs Gesellschaft fühlt Tom sich schon nach wenigen Minuten nicht mehr fremd.

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Es ist ihm, als ob er mit Hein in einem Hafen an Land ginge. Wang ist genauso gekleidet wie er selbst. Allerdings ist der Stoff seines Anzuges heller und leichter, und er trägt keine Mütze, sondern einen weißen Tropenhelm. Der gefällt Tom gut, und er beschließt sogleich, sich in Hongkong auch einen "Topi" zu kaufen. Der Zahlmeister der "Elbestrand" hat ihm den Rest seines Taschengeldes in Hongkong=Dollar umgewechselt. Wang bestätigt Tom, daß das Geld dafür reichen wird. "Du sprichst wirklich ausgezeichnet Deutsch", lobt Tom Wang, und dieser erzählt ihm, daß er sechs Jahre die deutsche Schule in Schanghai besucht hat. Tom wünscht, daß sein Englisch ebenso gut wäre. Allerdings hat er in den Häfen unterwegs allerlei hinzugelernt. Schon in Port Said hat er sich in einem Restaurant eine Portion Fruchteis und eine Coca=Cola bestellt, ohne daß der eingeborene Ober ihm auf Deutsch antwortete, und in der Straßenbahn hat er sogar ohne Schwierigkeit eine Umsteigekarte gelöst.

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Tom, Wang und der Kapitän auf der "Elbestrand"

Der Frachtdampfer "Elbestrand" hat in Hongkong an einem Pier festgemacht. Für Tom geht eine schöne Zeit an Bord zu ende. Kapitän Ohlsen, der ihm ein väterlicher Freund gewesen ist, gibt Ihm Ratschläge mit auf den Weg. Nun wird Wang Tschi=Ping Tom nach Schanghai begleiten, "Daß Du Tom aber heil bei seinem Vater ablieferst", sagt Kapitän Ohlsen freundlich scherzend zu den. europäisch gekleideten Chinesenjungen.

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Auf dieser Seite befindet sich der Teil Hongkong aus dem Sanella Album:

China Tibet Japan

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Tom freut sich auf Hongkong. Das soll nun die erste von vielen chinesischen Städten sein, die er kennenlernen wird. Chinesen gab es zu Hunderttausenden auch schon in Singapore, der englischen Kronkolonie an der Südspitze der malayischen Halbinsel. Dort hat Tom auch schon rein chinesische Straßen, chinesische Geschäfte und Restaurants, chinesische Theater und Tempel gesehen. Er erzählt Wang, daß Hein ihn in Singapore sogar vor eine chinesische Opiumhöhle geführt hat. Aber hineinzugehen hätten sie sich nicht getraut. Sie hätten an dem süßlichen Duft, der aus der perlenverhangenen Tür drang, bereits genug gehabt. "Auch Hongkong ist noch kein richtiges China", sagt Wang. "Es ist wie Singapore eine englische Kronkolonie. Dort drüben am Ufer unter den Palmen siehst du das Denkmal der englischen Königin Victoria. Nach ihr ist die vor uns liegende Inselstadt benannt. Morgen werde ich dir den Palast des britischen Gouverneurs zeigen, der in Hongkong über zwei Millionen Chinesen gebietet." Am Ufer warten Dutzende von Rikschas auf sie. Wang bringt mit wenigen, ganz leise gesprochenen chinesischen Worten das Geschrei der Rikschakulis zum Verstummen. Zwei fahren zum Einsteigen vor. Bis zum chinesischen YMCA (Vereinshaus christlicher junger Männer), wo Wang ein Doppelzimmer bestellt hat, ist nur ein kurzer Weg. In sausendem Galopp geht es um eine Ecke, an der unter einem Sonnenschirm ein baumlanger indischer Verkehrspolizist mit langem Bart steht. Die Rikschakulis machen einen respektvollen Bogen um ihn herum. Mit Wangs Hilfe füllt Tom in der riesigen Empfangshalle des YMCA sein Anmeldeformular aus. Der Empfangschef prüft, ob die Angaben über Geburtstag, Geburtsort, Paß= und Visanummer mit ihren Reisepässen übereinstimmen. Dann fährt ein kleiner, uniformierter chinesischer Liftboy sie im Fahrstuhl in den 7. Stock hinauf.

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Im Zimmer schaltet Wang sofort die elektrischen Ventilatoren ein und zieht seine Jacke aus. Vom Balkon des Zimmers sehen sie auf eine Straße hinab, die links zum Hafen hinunterführt und rechts - stark ansteigend - den Blick freigibt auf den Peak, den 600 Meter hohen Gipfel des Inselberges. Fast bis zum Gipfel empor ziehen sich die Villenviertel der Stadt. Tom möchte gleich aufbrechen, die Wunder dieser eigenartigen Stadt aus der Nähe anzusehen. Wang schlägt vor, bis zum Dunkelwerden die Queens Road, die Hauptgeschäftsstraße von Viktoria, hinunterzubummeln, dort den Tropenhelm zu kaufen und dann in ein chinesisches Theater oder Kino zu gehen. Morgen können sie mit der Drahtseilelektrischen auf den Peak fahren. "Wenn du eine Badehose mitgebracht hast, können wir auch am Strand der Repulsebucht baden. Das Vergnügen eines Freibades wirst du im übrigen China nur selten haben. Die meisten Gewässer im Innern sind durch Hakenwürmer und gesundheitsschädliche Abwässer verunreinigt und deshalb lebensgefährlich." Tom hat seine Badehose natürlich im Koffer. Er ist mit allen Vorschlägen Wangs einverstanden.

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Er hat schon erkannt, daß dieser frische und kluge Chinesenjunge ihm ein guter Führer und Freund sein wird. Tom bittet Wang, daß sie gleich aufbrechen möchten. Aber Wang läßt ihn noch einen Augenblick warten. Er kramt in seinem Koffer und verschwindet im Badezimmer. Nur einen Augenblick! Dann steht Wang Tschi=ping in chinesischer Kleidung vor Tom, in einem langen weißseidenen Gewand. "Unser Ischang ist viel bequemer und luftiger als euer Anzug. Außerdem hat er keine einzige Außentasche. Ich brauche nicht wie du fünf Taschen vor Taschendieben in acht zu nehmen ... Als Chinese im Ischang kann ich deinen Tropenhelm vielleicht auch zu einem billigeren Preis erstehen."

Bummel und Einkauf in der Queens Road

Die beiden schieben sich durch das Gedränge der Queens Road. Solch ein Menschengewimmel in einer Geschäftsstraße hat Tom noch nirgendwo gesehen. Wie auf einem Jahrmarkt drängen sich die Menschen nicht nur auf den

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Rikschas und Polizist mitten im Stadtverkehr

Am Blake Pier in Hongkong wählt Toms neuer chinesischer Freund unter Hunderten von Rikschas zwei aus. Tom und Wang besteigen sie, und dann geht es in sausendem Galopp zum Hotel. An einer Straßenbiegung steht unter einem Sonnenschirm ein baumlanger indischer Polizist und lenkt den Verkehr. Die Rikschakulis machen einen respektvollen Bogen um ihn.

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In einer Hauptstraße von Hongkong

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Bürgersteigen, sondern auch auf der Fahrbahn. Autos kommen nur mit ohrenbetäubendem Gehupe schrittweise vorwärts. Aus den oberen Stockwerken der Geschäftshäuser hängen bunte Reklamefahnen mit riesigen chinesischen Schriftzeichen tief in die Straße hinab. Tom ist doch ein wenig besorgt, daß er Wang in diesem Gedränge verliere. Nur ab und zu taucht ein weißes Europäergesicht auf. Chinesen, Tausende von Chinesen, und fast alle im Ischang, Männer, Frauen, Alte, Junge, Kinder. Und alle Ischangs haben fast den gleichen Schnitt, die weißen, grauen, blauen, braunen und schwarzen Männerischangs und die prächtigen, farbenfrohen Frauenischangs in Gelb und Rot, Lila und Grün. In den Geschäftsstraßen wird alles angeboten, was es in irgendeiner Großstadt der Welt zu kaufen gibt. Was Tom hier besonders auffällt, sind die überladenen Schaufenster der großen Seiden=, Fächer=, Elfenbein=, Silberwaren= und Porzellangeschäfte. Dann die Läden mit chinesischen Kunstgegenständen: auf Seide gemalte, geschnitzte, bronzene, silberne, goldene und aus Porzellan gefertigte Buddhafiguren, Drachen, Tiger, Elefanten. Eine Hand hat Tom immer an seiner Geldbörse. Eine halbe Stunde später ist das Gedränge nicht mehr ganz so schlimm.

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Der Strom der Angestellten aus den Büros, die nach zweistündiger Nachmittagsarbeit um fünf Uhr schließen, hat sich verlaufen. Sie blicken in Seitenstraßen, die als Treppenstraßen den Inselberg hinanführen. Tom tritt mit Wang in ein Hutgeschäft ein. Bis unter die Decke türmen sich ineinandergestülpte Chinesenkappen. Die Maotse, die krempenlose Kopfbedeckung der chinesischen Männer, ist immer schwarz. Nur der kleine Stoffknopf obendrauf hat drei verschiedene Farben, schwarz für den Alltag, weiß für Trauer und rot als Zeichen der Freude. Auf der andern Ladenseite sind auch Tropenhelme in allen Farben und Formen: rundliche, längliche, weiße, graue und khakifarbene. Der chinesische Verkäufer fragt nach Toms Hutnummer. Als Tom auf englisch "57" sagt, schüttelt sich der Verkäufer vor Lachen. "Fi=f=t=y=s=e=v=e=n?" fragt er lustig und so laut, daß die zwanzig anderen Verkäufer im Laden mitlachen. Tom wird rot. Wang wird rot. Wang sagt schnell ein paar Worte auf chinesisch. Dann legt der Verkäufer Tom ein Maßband um den Kopf und verkündet "221/4". Nun ist ein passender und auch der von Tom gewünschte Hut bald gefunden. Tom bekommt auf seinen 10=Dollar=Schein noch 21/2 Hongkong = Dollar zurück, zwei 1=Dollar=Scheine und fünf silberne 10=Cent=Stücke. Als er mit seinem neuen schneeweißen Topi den Laden verläßt, machen 21 Ladenangestellte lächelnd eine Verbeugung. Die Dunkelheit bricht früh und schnell herein. Tom wundert sich nicht mehr darüber, seitdem Kapitän Ohlsen ihm erklärt hat, warum die Tage in den Tropen kurz und fast ohne Dämmerung sind. Jetzt leuchten an allen Geschäften und in allen Farben die Neonröhren auf. "Da kommt selbst unser Kurfürstendamm nicht mit", gesteht Tom. Am grellsten sind die Eingänge der Kinos und Theater beleuchtet.

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Die Titel der Filme und Theaterstücke werden durch laufende Lichterschrift in Englisch und Chinesisch angekündigt. "Der Tod des Tigergenerals" - "Die gute Erde" - "Die Dame mit der roten Hand" - "Der Richter mit dem eisernen Gesicht".

"Der Tod des Tigergenerals"

Tom möchte den Tod des Tigergenerals sehen und dabei ein chinesisches Theater kennenlernen. Wang warnt ihn: "Das Spiel wird ungefähr fünf Stunden dauern, und von der gesungenen chinesischen Sprache wirst du so gut wie gar nichts verstehen." Tom ist trotzdem entschlossen. Er weiß schon, daß man im chinesischen Theater während der Vorstellung zu Abend essen kann und jederzeit aufbrechen darf, wenn es einem nicht mehr gefällt. An der Kasse im Vorraum hören sie schon den Lärm der Musik. Schrille Geigen, Flöten, Trommeln, Pauken, Lauten, Schlaghölzer und Schellen. Besucher kommen und gehen, während das Spiel bereits in Gang ist.

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Die Pottinger Straße

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Im chinesischen Theater

Auch während der Vorstellung spazieren Essenverkäufer durch die breiten Gänge zwischen den Zuschauersitzen und bieten ihre Leckerbissen an. Die Chinesen nehmen im Theater ihre Hauptmahlzeit ein. Bei dem Lärm der schrillen Geigen, Flöten, Trommeln, Pauken, Schlaghölzer und Schellen wird dadurch niemand gestört. Die ganze Aufmerksamkeit der Zuschauer richtet sich auf die feinen Bewegungen der Schauspieler auf der Bühne.

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Quer durch die Sitzreihen führen fünf breite Gänge und der Abstand zwischen den Sitzreihen ist so groß, daß Eßwarenhändler mit ihren dampfenden tragbaren Garküchen dazwischen herumspazieren können. Sie verwehren niemandem die Sicht auf die Bühne, weil jede vordere Sitzreihe - ähnlich wie im Zirkus - etwas tiefer aufgestellt ist und die Bühne selbst sehr hoch liegt. Zwischen Bühne und Zuschauerraum gibt es keinen Vorhang. Bühnenaufbau und Umbau gehen vor den Augen aller Zuschauer vor sich. Oft kleiden sich die Schauspieler sogar auf offener Bühne um. Die Musiker sitzen seitwärts oben auf der Bühne. Sie rekeln sich auf ihren Sitzen, wenn sie müde sind, und trinken zwischendurch ihren Tee, gerade so wie die Zuschauer. Zur Erfrischung waschen sie sich auch ab und zu, gleichfalls wie die Zuschauer. Dafür werden von Waschmännern, die mit dampfenden Kübeln durch die Reihen gehen, heiße, nasse Handtücher gereicht. Als Wang und Tom am Mittelgang zwei gute Plätze gefunden haben, erhebt sich im Zuschauerraum ein ohrenbetäubender Lärm. Wie der Ruf "Tor!" in einem Fußballstadion braust es auf "Hao!" - "Hao!" Das heißt "Gut!" - "Gut".

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Mit dem Gedröhn der Pauken und dem Gebell der Schellen ist der Tigergeneral auf die Bühne getreten. Und dann ist atemlose Stille! Der Tigergeneral! Da steht er, wie ein zum Sprung bereiter Tiger. Sein Gesicht ist wie das Fell eines Tigers gestreift, schwarz und weiß, aber auch rot und blau. Die Schlitzaugen sind in den Gesichtsstreifen kaum zu erkennen. Ein breiter schwarzer Vollbart hängt bis über die Hüften hinab. Sein Gewand ist ein Krieger=Ischang, rot, schwarz und golden getigert. Auf dem Kopf trägt er eine Sonnenhaube mit einem Dutzend runder, goldener Spiegel, die bei jeder Bewegung das Licht aufblitzen lassen. Aber er verharrt jetzt ganz still. Wie ein Tiger vorm Sprung. Kinder schreien auf. Unheimlich! Ganz leicht nur zucken die kleinen Finger seiner Hände. Die eine streicht den Bart, die andere liegt an der Lanze. Dann schiebt er seinen linken, dick mit Filz besohlten Fuß drohend vor und wirft ruckartig seine Hüften halb herum. Vier auf seinen Rücken wie Flügel befestigte Fahnen erzittern. Nun schreitet er mit langsamen, gesetzten Schritten hin und her. Die Schellen bellen wieder. Die Schlaghölzer trommeln wild. Wang kann Tom, ohne einen Zuschauer zu stören, laut die Geschichte erzählen. "Der Tigergeneral ist ein Gefolgsmann des Verrätergenerals Li. Dieser hat den Mingkaiser Tschung in den Tod getrieben. Auf dem Kohlenhügel in Peking hat sich der Kaiser erhängt. Prinzessin Feh, die Geliebte des Kaisers, aber hat dem Verräter Li Rache geschworen. Sie begibt sich in seine Gewalt und hofft auf eine Gelegenheit, Li zu ermorden. Doch Li ahnt Böses, und er beschließt, Feh mit dem furchtlosen Tigergeneral zu vermählen..." Wang hält inne im Erzählen. Süße Töne der Bambusflöte künden das Nahen der Prinzessin Feh an. In prächtigen Gewändern treten drei Frauen vor den Tigergeneral hin: Feh und die beiden Kammerzofen, die der Verrätergeneral Li ihr beigegeben hat.

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Sie sind wie die Stimmen von Meisen, traurige und verführerische Lieder. Der Tigergeneral ist von den Reizen der Prinzessin überwältigt. Er läßt sich von ihrer zarten Hand ein Glas Reiswein nach dem andern einschenken. Sie plaudern und scherzen, und als er vom Wein schon berauscht ist, bittet sie ihn, doch sein Schwert und die Lanze abzulegen und den schweren Panzer, den er unter dem Tiger-Ischang trägt. Er gesteht ihr, daß er im Kampfe eine gefährliche Wunde am Arm davongetragen hat. Feh bittet ihn mit ihrer zarten Meisenstimme, seine Wunde pflegen zu dürfen. Er willigt ein, und wie ein Lamm läßt sich der berauschte Tiger von den Zofen zu Bett bringen. Als es Nacht ist, löscht Prinzessin Feh die Kerzen aus und stößt ihm den Dolch in die Brust, den sie in dem weiten Ärmel ihres Ischangs verborgen gehalten hat. Er springt auf und versucht, sein Schwert zu ergreifen. Im Dunkeln gibt es ein wildes Kampfgetümmel zwischen den beiden, bis er - durch das eigene Schwert geschlagen - sein Leben verröchelt. Die Kammerzofen eilen herbei und klagen Feh des ruchlosen Mordes an. Sie sieht ein, daß sie unrecht gehandelt hat, und gibt sich selbst den Tod.

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Theaterszene mit dem Tigergeneral

Mit furchterregender Maske steht der verwundete Tigergeneral auf der Bühne. Sein Gesicht ist wie das Fell eines Tigers gestreift. Drohend flattert der lange, schwarze Vollbart. Plötzlich verstummt das laute Spiel der Musikanten im Hintergrund. Unter den süßen Tönen einer Bambusflöte kniet Prinzessin Feh vor ihm hin. Furchtbare Racheplane verbirgt sie in ihrer Brust.

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Eßwarenhändler auf der Straße

Peng! - Peng! - Peng! Durch die ganze Straße und bis in die hintersten Höfe tönt der Gong des Speisenhändlers. Mit schriller, singender Stimme preist die Erzeugnisse seiner tragbaren Küche an: "Frischer Reis mit Sojasoße!" - "Leckere Fleischpasteten!" - "Heißer Tee!" Der Rikschakuli und der Lastenträger haben schon auf ihn gewartet. Sie, die nicht an einem eigenen Tisch essen können, kaufen ihm das eine oder andere seiner Gerichte ab und nehmen es, auf der Straße hockend, während kurzen Arbeitspause ein. Eine Schale Reis kostet nur ein paar Kupfermünzen. Trotzdem kann sich mancher Kuli nur eine tägliche Mahlzeit leisten.

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Mit ihrem eigenen Dolch im Herzen klagt sie, daß es ihr nicht vergönnt war, den Tod des Kaisers an dem schuldigen General zu rächen. Tom hat die gesprochenen und gesungenen Worte nicht verstanden. Aber er hat alles so sehr miterlebt, daß er darüber das Essen ganz vergessen hat. Wang zeigt auf seine Armbanduhr. Nach zehn Uhr ist es schon. "Wir werden in der Snack=Bar des YMCA noch etwas zu essen bekommen!" - "O ja, Bratkartoffeln mit Garnelen, die habe ich auch einmal in Singapore in einer Snack=Bar gegessen . . ." Sie machen sich schnell auf den Heimweg. Die Straßen sind fast leer. Nur vor den englischen Klubs parken lange Autoreihen.

Chinesisches Frühstück mit Stäbchen gegessen

Am andern Morgen ist Tom früh wach. Der Lärm der Straße dringt bis in das Zimmer hinauf. Die Schlaghölzer der Straßenhändler erinnern Tom an die Geschichte von dem Tigergeneral. Er wundert sich, nicht davon geträumt zu haben. Die Jungen beschließen, chinesisch zu frühstücken. Jede chinesische Stadt hat ihre eigenen Gerichte, und jeder Chinese ißt am liebsten die Gerichte seiner Heimat.

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In jeder Großstadt gibt es Restaurants für alle Geschmäcker. Die Familie Wang stammt aus Kanton. Obwohl Wangs Vater schon zehn Jahre in Schanghai ansässig ist, ißt die Familie Wang immer noch nach kantonesischer Art. In Schanghai haben sie einen kantonesischen Koch, und wenn sie auf Reisen sind, gehen sie in ein kantonesisches Restaurant. So führt Wang seinen Freund nun auch in ein kantonesisches Restaurant neben dem YMCA. Der Boy legt jedem ein Paar Eßstäbchen und eine Speisekarte vor. "Versuche, ob du damit fertig wirst!" fordert Wang Tom auf. Die Speisekarte ist ein Büchlein mit 22 Seiten. Auf jeder Seite stehen zehn bis zwanzig Gerichte. "Das alles kannst du in einem kantonesischen Restaurant zu jeder Tageszeit haben!" Die Karte nennt die Namen der Gerichte in Englisch und Chinesisch und gibt für jedes Gericht eine Bestellnummer an. Die Preise sind erstaunlich niedrig. Reis wird allein in neun verschiedenen Zubereitungsarten angeboten, aber Milchreis ist nicht dabei! Eine Portion Reis, einfach gekocht, kostet 6 Cents (=5 Pf), gebratener Reis "ä la Canton" 30 Cents, Reis mit zerkleinertem Rind= oder Schweinefleisch 40 Cents, Reis mit gewürztem Hühnerfleisch 50 Cents. Wang rät, die Seite 7 der Karte aufzuschlagen und unter "Zeitsparenden Gerichten" (Time=Saving-Meals) eine Nummer zu wählen. ",Specially recommended' heißt ja wohl besonders empfohlen. .., ich nehme Nr. 150", sagt Tom. Wang wählt Nr. 146, gebratenen Reis mit Suppe. Das ist von frühester Kindheit an sein Lieblingsgericht gewesen. Dann übt Tom erst mal, wie man die Eßstäbchen handhabt. Wang macht es ihm vor. "Man muß die Stäbchen so zwischen Daumen, Zeige= und Mittelfinger der rechten Hand nehmen, daß sie eine Art Pinzette bilden. Die Hauptsache ist, daß die vorderen Enden der Stäbchen genau aufeinanderliegen. Am besten stellst du sie beim Ergreifen senkrecht auf den Tisch, dann wird es schon gehen." Tatsächlich, es geht! In wenigen Minuten sind die Gerichte serviert.

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Nicht auf Tellern, sondern in Schalen, die etwa so groß sind wie zwei hohle Männerhände. Außerdem stellt der Boy vor jeden eine Teetasse ohne Henkel, in der ein paar grüne Teeblätter liegen. Das Wasser dazu bringt ein besonderer Boy in einem dampfenden Wasserkessel. Der Tee kostet im Restaurant nur 10 Cents für jede Person, einerlei ob man eine Tasse trinkt oder zehn. Mit seiner Stäbchenpinzette führt Tom die Hühnerfleischstückchen seines Reisgerichtes tadellos von der Schale in den Mund. Allerdings verkürzt er den Weg, indem er sich tief über die Schale beugt. Aber soll er auch die einzelnen Reiskörnchen so mühsam zum Mund befördern? Wang lächelt. "Das geht viel einfacher! Sieh her!" Er hebt seine Schale mit Reissuppe an den Mund, saugt die Suppe ein und schiebt die Reiskörner mit dem Doppelstäbchen nach. Im Nu ist die Schale leer. "So kann ich das auch", meint Tom. "Nun also, so machen es alle Chinesen." , Der Preis für das Frühstück der beiden Jungen beträgt 1,10 Hongkong-DolIar einschließlich Trinkgeld. "Billig", meint Tom, "und dbei bin ich ganz satt!"

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Haarschneider auf der Straße

"Nehmen Sie auf meinem weichgepolsterten Sessel Platz und lassen Sie Ihren wohlgeformten Schädel von meiner federleichten Hand rasieren!" - Wie der Eßwarenhändler seine Küche, so trägt der Barbier sein Handwerksgerät an einer Bambusstange durch die Straßen. Hat er einen Kunden gefunden, entnimmt er der Schublade unter dem Stuhl das nicht immer weiße Tuch, Seife und Messer und läßt das Rasierwasser in der Schüssel über dem Holzkohlenfeuer dampfen. Je verkehrsreicher die Ecke, an der er sich niederläßt, desto aussichtsreicher das Geschäft - für den Barbier und für den Kunden.

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Chinesisches Frühstuck

In einem kantonesischen Restaurant ißt Tom seine erste Mahlzeit mit chinesischen Eßstäbchen. Das geht viel leichter, als er es sich gedacht hat. "Man muß die Stäbchen so zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger nehmen, daß sie eine Art Pinzette bilden", belehrt ihn sein chinesischer Freund. "Beim Reisessen hebst Du die Schale an den Mund und schiebst die Reiskörner mit dem Doppelstäbchen hinein!"

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Mit der Drahtseilbahn auf den Peak

Vom Palast des britischen Gouverneurs ist Tom enttäuscht. Es ist ein altmodischer, zweistöckiger Bau, der hinter hohen eisernen Gittern inmitten weiter, herrlich grüner Rasenflächen und roter Tennisplätze liegt. Das sechzehnstöckige Hochhaus der Hongkongbank, ein blendendweißer Betonbau, macht auf ihn einen imposanten Eindruck. Mit der Drahtseilelektrischen fahren sie in zehn Minuten zum Peak hinauf. 600 Meter! Immer weiter wird die Aussicht: auf den Gouverneursgarten, die Marinewerft, das Hafenviertel, den Hafen, ganz Viktoria und auf den gegenüberliegenden Festlandstadtteil Kaulun. Herrlich! Wie angenehm die Luft hier oben ist nach der Treibhaushitze da unten! An den Endstationen der Drahtseilbahn sind große Thermometer angebracht. Unten zeigte es 450 C, oben 370 C! Kein Wunder, daß der Gouverneur von Mai bis Oktober in seiner Sommerresidenz auf dem Peak wohnt. Vom Bahnhof bis zum höchsten Gipfel sind nur noch zehn Minuten Weges. Sie sehen Kasernen, Befestigungsanlagen und große Wassertanks für die Trinkwasserversorgung der Stadt.

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Von einer Ruhebank der Aussichtsterrasse halten sie lange Ausschau nach allen Seiten. Wie ein Spielzeug liegt da auch die "Elbestrand" - Tom erkennt ihren rotweißgestrichenen Schornstein. Wang zeigt über Kaulun hinweg in nordwestliche Richtung. "Dort hinter den Bergen liegt Kanton, die Stadt meiner Väter. Sie ist mehr als zweitausend Jahre alt, Hongkong dagegen nur gut hundert Jahre." Bevor die Engländer nach Hongkong kamen, war Kanton der große Hafen Südchinas. Als der Tigergeneral dem Mingkaiser Tschung in den Tod folgte (1644), gab es auf der ganzen Hongkonginsel noch kein einziges europäisches Haus. Viktoria ist erst nach 1842 von den Briten aufgebaut worden.

CHINESISCHER SPEISEKARTEN- UMSCHLAG

Der "Opiumkrieg"

Damals verwehrte das kaiserliche China europäischen Schiffen das Anlaufen des Kantoner Hafens. China, das "Reich der Mitte", wollte sich in seiner Abgeschlossenheit nicht stören lassen. Die Chinesen mit ihrer tausendjährigen Kultur schauten auf die Europäer herab und nannten sie Barbaren. Als der kaiserlich=chinesische Machthaber in Kanton, ein Vizekönig, englischen Kaufleuten die Einfuhr von indischem Opium verbot, kam " es zum Opiumkrieg. Das war im Juli 1839. "In den Gewässern dort unten", erzählt Wang, "standen britische Fregatten und chinesische Kriegsdschunken im Kampf. Mittelalterliche Vorderladekanonen aus Bronze feuerten gegen moderne Stahlkanonen." Das Ende war eine Niederlage Chinas. Am 29-Mai 1842 wurde die Insel Hongkong "für ewige Zeiten" an Großbritannien abgetreten . .. Wie klein die Insel ist, erkennt Tom, als sie eine Stunde später im Autobus an die Inselküste fahren, die der offenen See zugekehrt ist. Hier ist der herrliche Sandstrand der Tiefwasserbucht mit einem Strandhotel, das aussieht wie ein Märchenschloß. In der prallen Mittagssonne badet natürlich kein Mensch. Nur früh morgens und abends und in Mondnächten ist der Strand belebt, zu Weihnachten und Ostern ebenso wie im Sommer. Nie sinkt das

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Kriegsdschunke

Der Opiumkrieg wurde mit recht ungleichen Waffen ausgefochten. Britische Fregatten mit Stahlkanonen feuerten auf chinesische Kriegsdschunken, die mit mittelalterlichen bronzenen Vorderladern ausgestattet waren. Doch die Chinesen waren harte Gegner, die sich erbittert zur Wehr setzten und auf ihren Holzdschunken aushielten, bis auch die letzte Kugel verfeuert war.- im Frieden von Nanking wurde dann China gezwungen, die Insel Hongkong "für ewige Zeiten" an Großbritannien abzutreten.

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Thermometer unter 22° Celsius. Auch auf die Gefahr hin, einen Sonnenstich oder einen Herzschlag zu bekommen, stürzt Tom sich in die blauen Fluten. Der Sandstrand ist heiß wie ein Backofen, und das warme Wasser erscheint ihm kühl. Wang bleibt im Schatten einer Bambushütte sitzen und bewacht die Kleider. Tom schwimmt auf eine Dschunke zu und hat sie fast erreicht, als ein stechender Schmerz seinen Leib lähmt. Eine Qualle? Er möchte schreien. Aber er beißt die Zähne zusammen und dreht bei. Mit letzter Kraft kommt er zum Ufer zurück. Er legt sich neben Wang in den Schatten. Seine Ohren sausen, vor seinen Augen wird es schwarz... "Tom!!" ruft Wang, aber Tom antwortet nicht mehr. Als Tom wieder zu sich kommt, ist es fast schon drei Uhr nachmittags. Dunkle Wolken haben den Himmel bezogen. Ein chinesischer Arzt mit heißen Handtüchern und rosa Pillen steht bei ihm. Und viele chinesische Kinder. Es ist höchste Zeit für den Dampfer. Tom hat nur einen Wunsch: eine Flasche Coca=Cola zu trinken. So kommt er auch noch in das Hotel, das aussieht wie ein Märchenschloß.

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Mit einem "Apfelsinendampfer"

Nachdem Tom und Wang ihr Zimmer bezahlt haben, zählen sie ihr Geld. Es reicht noch für ein Telegramm nach Schanghai. ANKOMMEN FREITAG MIT SUIVO. Tom bezahlt mit seinem letzten Hongkong=Dollar. 10 Cents bekommt er noch zurück. Die reichen gerade für das Boot, mit dem sie sich an die "Suiwo" rudern lassen müssen, nicht aber für eine Rikscha. Gut, daß der Weg die Peddarstraße hinunter zum Blake Pier nur kurz ist. Mit ihrem Gepäck schwitzen sie wie die halbnackten Träger= und Rikschakulis. An der Landungsbrücke schaukeln Dutzende von kleinen Ruderbooten, die auf chinesisch Sampans heißen. Aus jedem schreit ihnen ein Sampanmann oder eine Sampanfrau entgegen. "Master, Master, nehmt mein Boot - nur 20 Cents!" ruft der eine. "Master, Master, nur neunzehn Cents!" ein , anderer und "Master, nur siebzehn Cents!" ein dritter. - Wang verhandelt mit dem, der seine Dienste für 17 Cents angeboten hat. Aber sie steigen in sein Boot erst ein, als er mit 10 Cents Fährgeld einverstanden ist. Der Sampanmann kennt die Namen und Liegeplätze all der großen und kleinen Dampfer im Hafen.

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"Suiwo ... Ankertonne Nr. 27", sagt er. Dann wriggt er los. Schade, die "Elbestrand" liegt am andern Ende des Hafens. Jeder Dampfer ist von einem Schwarm von Dschunken und Frachtkähnen umringt, die ihm seine Ladung abnehmen oder zubringen. An den hochaufragenden Bordwänden der "Suiwo" ist die Ebbeströmung ungeheuer stark. Der Sampanmann muß alle Kraft aufbieten, sein Boot an dem Fallreep so lange festzuhalten, bis Tom und Wang überspringen können. Als sie mit ihrem Gepäck die schwankende Treppe emporsteigen, werden sie von oben jubelnd begrüßt. Fünfzig Köpfe gucken über die Reling und schreien ihnen "Come on, boys!" entgegen. Tom und Wang sind einigermaßen verwundert. Aber bald wissen sie, warum die fünfzig Jungen an Bord sind. Neben einer Ladung von Stückgut und Apfelsinen für nordchinesische und japanische Häfen soll der Frachter "Suiwo" diese Jungen der Viktoria=Heimschule nach Japan bringen. Sie wollen dem heißen und schwülen Hongkongsommer entgehen und reisen zu einem Ferienaufenthalt in die kühleren Berge Japans. Die Sommerferien dauern in Hongkong länger als drei Monate. Da lohnt sich schon eine Ferienreise über 1300 Seemeilen. Außer den Jungen und ihren beiden Heimleitern ist kein erwachsener Passagier an Bord. Sie haben alle Kajüten für sich. Tom und Wang sind mit ihrer Kabine nicht ganz zufrieden. Es ist die letzte an dem Backbordkorridor unter Deck. Durch die Nähe der Maschine wird es dort noch heißer sein als in allen anderen Kabinen.

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Sampans am Pier

An. den Landungsbrücken schaukeln Dutzende von kleinen Ruderbooten, die auf chinesisch "Sampan" heißen. Die Sampanmänner - manchmal sind es auch Sampanfrauen - preisen laut schreiend ihre Boote und Fahrkünste an. "Nur 20 Cents! - Nur 19 Cents! - Nur 17 Cents!" so unterbietet einer den anderen. Die Sampanleute kennen die Namen und Liegeplätze aller Dampfer im Hafen, sie sind die Rikschakulis der Wasserstraßen.

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Palisadengitter auf der "Suiwo"

Wozu das Oberdeck des Schiffes durch ein Palisadenzaun vom Passagierdeck abgetrennt sei, fragt Tom den Kapitän der "Suiwo". Dieser lächelte sauersüß. "In der chinesischen Küstenschiffahrt wird nämlich alle paar Tage ein Dampfer von Seeräubern gekapert. Als harmlose Deckspassagiere kommen sie an Bord, und auf hoher See entpuppen sie sich dann! Und wir wollen diesen Burschen doch ihr Handwerk nicht allzu leicht machen."

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Die Schutzventilatoren laufen erst, wenn das Schiff Fahrt macht. Bis zur Abfahrt sehen sie an Deck zu, wie das Schiff beladen wird. An jedem Mast sind zwei Ladebäume wie schräg hochstehende Äste beweglich angebracht.Dar über laufen Ladetrossen wie bei einem Kran. Die Ladebäume schwingen in großen Netzen jedesmal 40 Kisten Apfelsinen aus den Bäuchen der Dschunken in die Ladeluken der "Suiwo". Einmal schlägt eine Kiste hart gegen den meterhohen Lukenrand und zerbricht. Da regnet es Apfelsinen auf das Deck. Die Jungen stürzen sich darüber her. Nicht jeder hat eine abbekommen. Nun warten sie darauf, daß sich das Spiel wiederholen soll. Die Besatzung der "Suiwo" besteht aus Chinesen. Nur der Kapitän, der Steuermann und der erste Ingenieur sind Europäer. Sie freuen sich über ihre "Ladung" Jungen und geben auf alle Fragen freundlichen Bescheid. Wozu die Deckaufbauten mit der Kommandobrücke gegen das Vorder= und Hinterdeck mit eisernen Palisadengittern, Stacheldraht und Stahltüren gesichert seien, will einer wissen, den sie Billy nennen. Der Kapitän lächelt sauersüß.

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Die andern Jungen lachen ihn aus. "So ein Greenhorn hat noch nichts von der Biasbucht gehört?!" - "Nur fünfzig Meilen von Hongkong entfernt, und beinahe in der ganzen Welt bekannt!" - "Seit Hunderten von Jahren betreiben die Männer von der Biasbucht das Seeräuberhandwerk, und noch kein Kaiser und kein Präsident von China hat die daran hindern können!" - "Sie haben schon viele große und kleine Handelsschiffe mit ihrer gesamten Ladung und Besatzung in die Schlupfwinkel ihrer Felsenküste entführt. Vor allem haben sie es auf reiche Passagiere abgesehen. Sie halten sie so lange gefangen, bis die Angehörigen ein hohes Lösegeld zahlen. "Und wenn die Angehörigen das nicht tun?" fragt Billy. - "Dann wird ihnen erst ein Finger, einige Tage später noch ein Finger und endlich ein Ohr zugeschickt - dann zahlen sie schon", antwortet der Steuermann. Als Billy ein bedenkliches Gesicht macht, sagt der Kapitän: "Für diese Reise ist nichts zu befürchten. An der Biasbucht wachsen auch Apfelsinen, und Jungen sind bekanntlich keine Millionäre." Außerdem seien er und der chinesische Zahlmeister des Schiffes eingetragene Mitglieder des Seeräuberklubs und mit ihren Monatsbeiträgen nicht im Rückstand. Billy starrt den Kapitän an. "S-s-sind Sie denn auch ein Seeräuber?" Der Kapitän schüttelt lachend den Kopf. "Durch unsere monatlichen Zahlungen an den Geheimklub der Seeräuber machen wir nur den Versuch, die Gesellschaft gegen die ,Suiwo' günstig zu stimmen." Das Schiff sei bis jetzt noch nie überfallen worden, und es würde bestimmt auch diesmal gut gehen. - Die Ladearbeit ist beendet.

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CHINESISCHER HOTELPROSPEKT

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Apfelsinenregen

Die Jungen stehen an Deck herum und schauen der Verladearbeit zu. Aus den Bäuchen der Dschunken heben die Ladebäüme Apfelsinenkisten in die Luken der "Suiwo". Eine Kiste schlägt irgendwo hart an, und es regnet Apfelsinen auf das Deck. Die Jungen stürzen sich darüber her.

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Das Rattern der Winden und das Geschrei der Ladekulis und Aufseher verstummt. Die Deckluken werden geschlossen und mit Segeltuch überzogen. Glutrot sinkt die Sonne hinter den Inselbergen. Es hat leider nicht noch einmal Apfelsinen geregnet. Zum Trost für die hungrigen Jungen läutet der Gong zum Abendessen. "Gut, daß der Preis für das Essen in das Fahrgeld eingeschlossen ist", sagt Wang zu Tom, als sie in den Speiseraum gehen. Die "Suiwo" beginnt mit einem langgezogenen Wu=u=u der Schiffssirene ihre Fahrt. Dschunken und Sampans sollen sich in acht nehmen. Bevor das Fallreep hochgezogen wurde, sind noch sechs mit Maschinenpistolen bewaffnete englische Soldaten an Bord gekommen. Sie sollen die "Suiwo" - wie jedes englische Schiff im Chinaküstendienst - bewachen. Die Soldaten haben die höchsten Deckkabinen neben der Kapitänskajüte bezogen. Billy kann nun beruhigt essen. - Tom und Wang lassen sich nicht viel Zeit für das Diner. Sie stehen bald wieder an der Reling und schauen. Es wird schnell dunkel. Das Lichtermeer von Vikt'oria leuchtet auf. Ein Lichterband ist auch die Straße, die zum Peak hinaufführt.

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"Der ganz helle Punkt oben muß die Endstation der Drahtseilelektrischen sein", sagt Wang. Die andern Jungen streiten sich darum, ob Hongkong oder Rio de Janeiro als Lichterstadt den schöneren Anblick bieten. - Bald hat die "Suiwo" den inselgeschützten Hafen hinter sich gelassen und stampft und rollt nun in einen Sturm hinein. "Hoffentlich kommen wir nicht in einen Taifun", meint Billy, der neben Tom und Wang an der Reling steht. Taifune haben im süd= und ostchinesischen Meer schon viel größere Schiffe zerbrochen, als es die "Suiwo" mit ihren 3000 BRT ist. Der Wind und das Schlingern des Schiffes werden den Jungen bald zu ungemütlich. Sie ziehen sich in ihre Kabinen zurück. Da ist es noch scheußlich heiß. Nackt und ohne Decke liegen sie auf ihren Betten. Die Ventilatoren summen sie bald in tiefen Schlaf.

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Nächtlicher Überfall

Was war das? Tom ist wach geworden. Vor dem Bullauge ist bereits grauer Tag. Die Schiffssirene tutet dumpf. Wang im unteren Bett scheint nichts gehört zu haben. Sein Atem geht ruhig und tief. "Fischerboote in der Fahrtrichtung", denkt Tom und dreht sich um. Er möchte noch ein paar Stunden schlafen. Aber gleich darauf klingelt der Maschinentelegraph aufgeregt. "Stopp!" "Volle Fahrt zurück!" Die Maschine stampft im Gegentakt. Dann bummst es heftig gegen die Backbordwand. "Wang, hörst du?" Ehe er in den Hosen ist, wird ihre Kabinentür aufgerissen. Eine Sekunde lang starren Tom und Wang in das finster blickende Gesicht eines Seeräubers. Dann knallt die Tür wieder ins Schloß. "Tufei" flüstert Wang zitternd, und dieses chinesische Wort versteht auch Tom schon, "Räuber!". Sie horchen hinter ihrer Kabinentür. Es ist kein Schuß gefallen. Es sind nur ein paar aufgeregte Worte gewechselt worden.

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Wieder einmal ist es den Bias="Fischern" in Zusammenarbeit mit Komplizen unter der Mannschaft gelungen, ein Schiff in ihre Gewalt zu bringen. Die beiden wachthabenden englischen Soldaten sind als erste überrumpelt worden. Als das Schiff seine Fahrt verlangsamte, haben zwei Dutzend verwegene Tufeis die "Suiwo" geentert. Gleichzeitig mit den Wachen ist das Gerät des Bordfunkers ausgeschaltet worden. Den Steuermann haben sie mit einer vorgehaltenen Pistole gezwungen, den Kurs zu ändern und in Richtung Biasbucht zu steuern. Es wird noch Stunden dauern, bis die Seefahrtssicherung der britischen Regierung in Hongkong die Kursänderung bemerkt.

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Lichterstadt "Hongkong"

Märchenhaft schön ist abends der Anblick der Lichterstadt Hongkong, bis zum 600 Meter hohen Peak hinauf ziehen sich die Lichtbänder der Autostraßen -"Der ganz helle Punkt oben muß die Station der Drahtseilbahn sein", sagt Wang zu Tom. Die beiden stehen an der Reling der "Suiwo", bis diese aus dem Hafen hinausgleitet. Die anderen Jungen streiten sich herum, ob Hongkong oder Rio de Janeiro als Lichterstadt den schönsten Anblick bietet.

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Fischerboote? - Seräuber!

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Bis dahin aber wird die Lösegeldforderung der Seeräuber in Hongkong bekannt sein: "Für jeden Jungen 10 000 Hongkong=Dollar Lösegeld. Die Summe ist bei der portugiesischen Bank in Macao zu hinterlegen." Wang hat ähnliche Geschichten oft genug in Schanghai in der Zeitung gelesen. Er erzählt Tom, daß es nur dann blutig zugeht, wenn sich jemand wehrt. Das wissen auch die andern Jungen, und darum bleibt alles ganz still. Auch die Heimleiter werden die Anweisungen der Seeräuber befolgt haben, andernfalls sind sie geknebelt und an Händen und Füßen gefesselt worden. Wang steht ein Bild vor Augen, das er kürzlich in einer Schanghaier Zeitung gesehen hat. Da liegen zwei Gefesselte neben den Bordkanonen einer Seeräuberdschunke. Die beiden Jungen legen sich wieder auf ihre Betten und beraten. "Wir gehören ja gar nicht zu dieser Schule, und unsere Eltern wohnen auch nicht in Hongkong", sagt Wang. "Ob die Seeräuber die Passagierliste durchgesehen haben? Vielleicht stehen unsere Namen gar nicht in der Liste. Wir bekamen ja erst wenige Stunden vor der Abfahrt der "Suiwo" die Erlaubnis, dieses Schiff der Reederei benutzen zu dürfen, weil zwei andere Fahrgäste ihre Fahrkarten zurückgegeben hatten.

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"Zu dumm, daß ich noch telegraphiert und die ,Suiwo' erwähnt habe", antwortet Tom. "Mit den Radionachrichten zu Mittag werden nun auch unsere Väter und deine Mutter in Schanghai in derselben Sorge sein wie die Eltern all der anderen Jungen." Wang holt tief Atem und pfeift ausatmend die Luft durch die Zähne "s=s=s=s=a=a!" Das tun die Chinesen immer dann, wenn sie weder ein noch aus wissen. Tom sagt nach einer Weile: "Kannst du nicht den Zahlmeister bitten, daß er uns als Schiffsjungen ausgibt? Dann kommen wir mit dem Schiff wieder frei, und unsere Väter haben überhaupt kein Lösegeld zu zahlen." Wang glaubt nicht, daß dies ein Ausweg ist. "Bei den Zahlmeistern weiß man nie, ob sie zu den Seeräubern oder zu den Passagieren halten. Aber ich will es versuchen, wenn sich eine Gelegenheit bietet." Um 7 Uhr ruft der Gong die Jungen zum Frühstück, als ob nichts geschehen wäre. Einigen Jungen stehen Tränen in den Augen. Sie haben bis jetzt gar nicht gemerkt, was vor sich gegangen ist, und eben erst davon erfahren. Billy setzt sich neben Tom an den Frühstückstisch und fragt ihn im Flüsterton: "Werden sie uns nun auf Dschunken packen und in ihren armseligen Fischerhütten gefangenhalten oder gar in die Berge verschleppen!?" Wang tröstet ihn. "Dir und mir und den andern wird nichts geschehen, wenn wir uns nur ruhig verhalten. Wenn du schon etwas länger in China gelebt hättest, dann wüßtest du, daß in China das Sprichwort gilt: ,Abwarten und Teetrinken'. Mir machen nur meine und eure Eltern Sorge." Billy schluchzt und rührt den Porridge nicht an, den der Boy vor ihn auf den Tisch gestellt hat. Er horcht auf die Gespräche der andern Jungen. Die Tischplätze der beiden Heimleiter sind leer.

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In Hongkong werden die Eltern vielleicht schon beim 0=Uhr=Frühstück durch das Radio hören, daß ihre Söhne entführt worden sind. Wie ein Lauffeuer wird die Nachricht durch Hongkong gehen: "Suiwo' mit 50 Jungen gekidnappt." Die britische Regierung in Hongkong wird natürlich Gegenmaßnahmen ergreifen. Sie wird Kanonenboote und die schnellen Zerstörer aufbieten, die gekaperte "Suiwo" zu verfolgen. Sie wird Aufklärer und vielleicht Bomber der RAF einsetzen, um die Seeräuber zur Vernunft zu bringen. Es wird auch einige Väter und Mütter geben, deren Nerven stark genug sind, auf die Wirkung solcher Gegenmaßnahmen zu hoffen. Viele aber werden das Lösegeld telegraphisch an die Bank in Macao überweisen. Und dann wird das geschehen, was die meisten Jungen erhoffen: Die Seeräuber werden, ohne einen Jungen mitzunehmen, die "Suiwo" wieder verlassen und den Kapitän die geplante Reise fortsetzen lassen. Als Billy halbwegs getröstet seinen Löffel ergreift, verstummen die Gespräche der Jungen. Ein Mann in ärmlicher Chinesenkleidung ist an den Tisch getreten, an dem gestern beim Abendbrot die Heimleiter saßen.

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Gefesselt auf der Seeräuberdschunke

"Ein Lösegeld oder Dein Leben!" - Das ist der Wahlspruch der chinesischen Seeräuber. An Händen und Füßen gefesselt werden die Gefangenen in die Schlupfwinkel der Seeräuber gebracht. Geschossen wird bei diesen Überfällen möglichst wenig; das könnte die Fahrzeuge des Küstenschutzdienstes aufmerksam machen und bringt kein Geld ein. Nur wenn feindliche Schiffe in bedrohliche Nähe kommen, treten die alten Bordkanonen in Tätigkeit.

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Der Seeräuberführer hält eine Ansprache

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Er bleibt dort einen Augenblick stehen, bis lautlose Stille herrscht, dann hält er in fließendem Englisch eine Rede. "Ihr Jungen habt euch gut gehalten und nicht durch unnötige Aufregung unseren Plan gestört. Zum Dank dafür bekommt jeder von euch sofort eine Kiste Apfelsinen und als Nachtisch zum Mittagessen eine halbe Apfeltorte. Auch sonst steht euch alles zur Verfügung, was der Koch in seiner Kombüse hat. Ihr könnt an eure Eltern telegraphieren, wenn ihr sie um eine Beschleunigung der Überweisung eines kleinen Lösegeldes bitten wollt. Eure Heimleiter dürft ihr darum nicht befragen. Sie sind im Zwischendeck in Haft gesetzt." Er verbeugt sich und geht wieder hinaus. Die Jungen sind jetzt allein im Speiseraum. Wang flüstert Tom zu: "Die haben gar nicht gemerkt, daß wir nicht zu der Schule gehören." Der Sprecher der 6. Klasse nimmt das Wort: "Was sollen wir tun?" Smith aus der 5. und der dicke Jonny aus der 6. Klasse schlagen vor, ein Telegramm an die Handelskammer in Hongkong zu richten, weil die meisten Väter ihr angehören. Black, der Kapitän der Fußballmannschaft, aber spricht gegen jedes Telegraphieren und erntet starken Beifall.

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Sie gehen auseinander mit dem Beschluß, daß jeder einzelne tun soll, was er für richtig hält. Indessen ist der Anker der "Suiwo" in die Tiefe gerasselt. In einer Felsenbucht, die von unbewohnten grünen Berginseln gegen die See geschlossen ist, liegt das Schiff still. Die Feuer unterm Kessel sind erloschen. Keine Rauchfahne soll das Schiff verraten. Es ist unerträglich heiß an Deck, aber noch heißer in den Kabinen. Mit Tropenhelmen und Sonnenbrillen angetan, machen die Jungen es sich in den Deckliegestühlen so angenehm wie möglich. Wang und Tom beobachten genau, ob einer der Jungen sich an den Tufei wendet, der ihnen die Rede gehalten hat. Er geht jetzt ab und zu über das Deck, scheinbar ganz uninteressiert. Keiner der Jungen meldet sich. Die meisten lesen die Reisebücher, die sie sich für Regentage in Japan mitgenommen haben. Der Tag schleicht entsetzlich langsam dahin. Zum Mittagessen gehen einige überhaupt nicht in den Speiseraum. Sie haben zu viele Apfelsinen gegessen. Mit der halben Apfeltorte wird nur Jonny ganz fertig. Nach Mittag ist die schwüle Hitze unter und über den eisernen Deckplatten unvorstellbar.

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Niemand hat den Jungen Ruhe geboten, aber sie sind so still geworden wie die Natur rundum. Über den Gräsern und dem Bambusdickicht auf den Berghängen flimmert die Luft. Das Schiff dreht sich mit dem Gezeitenstrom allmählich um den Anker, und der Schatten der Sonnensegel rückt langsam wie der Schatten einer Sonnenuhr weiter vor. Spätnachmittags hat Wang eine Idee. Er leiht von dem Quartiermeister für sich und Tom je eine Hängematte aus. Die hängen sie so auf, daß sie bei jeder Drehung des Schiffes etwas von dem abendlichen Seewind abbekommen. In den Hängematten wollen sie die Nacht verbringen. Ein Teil der Jungen macht ihnen das nach. Beim Abendessen kommt der Tufeisprecher wieder in den Speiseraum und fragt, ob sich jemand zum Telegraphieren entschlossen habe. Keiner meldet sich. Danach liegen sie wieder alle in den Hängematten und den Liegestühlen. In die Abendbrise mischt sich das ferne Zirpen von Millionen Grillen. Auch einzelne Moskitos tauchen auf. Die Jungen horchen auf ein leises Rollen fernen Donners. "Hoffentlich kommt kein Unwetter!" Das würde sie in die heißen Kabinen treiben und doch keine richtige Abkühlung bringen. Plötzlich hat Billy einen anderen Ton entdeckt: "Ein Flugzeug?" Eine Maschine der RAF, ausgesandt, sie zu suchen? Das Motorengesumm kommt näher. Eine Maschine zieht zwei Schleifen um die "Suiwo". Alle Jungen stehen an der Reling und recken die Hälse. "Wollen wir alle fünfzig schreien und winken?" fragt Jonny. Aber plötzlich sind fast ebenso viele mit Flinten und Maschinenpistolen bewaffnete Tufeis zwischen ihnen. - Die Maschine braust wieder davon. Jetzt wispern die Jungen wie die Grillen:

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Ein Flugzeug der Royal Air Force entdeckt uns

Eine Maschine der RAF umkreist die von den Seeräubern gekaperte "Suiwo". Die gegen Lösegeld gefangengehaltenen Jungen möchten vor Freude jubeln. Ob das Flugzeug ausgesandt ist, sie zu suchen? Wird es die Seeräuber wohl durch einen Bombenabwurf einschüchtern? Hingen überhaupt Bomben unter den Tragflächen? So gehen die Fragen hin und her. Und dann ist die Maschine plötzlich wieder verschwunden.

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Mit verbundenen Augen die Gangway hinunter

Der Seeräuberführer befiehlt Tom und Wang, die Gangway hinunterzusteigen in sein Motorboot. Auch ihr Gepäck ist schon dort. In der kleinen Kabine verbindet der Chinese ihre Augen und läßt sich die Armbanduhren der Jungen geben. Mit ratterndem Motor fährt dann das Boot ein paar Kreise, und die Jungen haben keine Ahnung mehr, wo sie sind und wohin es geht.

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"Haben sie uns entdeckt?" - "Ja" - "Nein!" "Ich glaube nicht" - "Hast du die Bomben unter der Tragfläche gesehen?" - "Die RAF wird doch auf uns keine Bomben werfen!" Das Unwetter bleibt aus. Nach Sonnenuntergang sind die Jungen teils in fröhlicher, teils in ängstlicher Stimmung. Nachts dreht sich die "Suiwo" weiter um ihren Anker, und die Jungen wälzen sich unruhig auf ihrer Schlafstelle. Hin und wieder klatscht eine Hand nach einem Moskito. Am nächsten Morgen jagt ein Motorboot vom Ufer des Festlandes auf die "Suiwo" zu. Unter den Seeräubern an Bord herrscht große Aufregung. Wang versteht wenig von dem Dialekt, den die Tufeis sprechen. Aber soviel errät er: Die Flugzeugbesatzung hat den Seeräubern durch Funkspruch mitteilen lassen, daß sie das Schiff und den Fischerort an der Küste bombardieren werden, wenn die "Suiwo" nicht innerhalb 12 Stunden wieder ihren alten Kurs aufgenommen hat. Gleichzeitig hat der Anführer der Tufeis nun aus Macao erfahren, daß bereits 320 000 Dollar Lösegeld überwiesen worden sind. - Das ist mehr, als die Bande erwartet hatte.

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Der Anführer befiehlt, daß seine Leute die "Suiwo" zu verlassen haben, ohne sich an Gepäck, Uhren und Taschengeld der Jungen zu vergreifen. Sie sollen die Jungen freundlich und höflich behandeln. Der Reederei will er die 52 Kisten Apfelsinen bezahlen. Nur eine Forderung hat der Räuberhauptmann an den Kapitän: "Die beiden Jungen, deren Namen nicht mit in der Passagierliste stehen, müssen mit an Land!" Der Kapitän weigert sich. "Die Jungen haben niemandem irgendein Unrecht getan. Sie sind die Söhne von Leuten, die ihr Geld hart verdienen!" Der Räuberhauptmann besteht auf seiner Forderung. "Auch wir wollen ihnen nichts zuleide tun, wenn das wahr ist, was Sie sagen. Aber das müssen wir erst noch feststellen. Wir vermuten, daß die beiden Jungen Angehörige des Multimillionärs sind, der zuerst die zwei Kabinenkarten bestellt hatte. Wenn das nicht der Fall ist, werden die Jungen sofort freigegeben. - Ich werde dann dafür sorgen, daß sie heil zu ihren Vätern nach Schanghai kommen." Unter diesen Umständen willigt der Kapitän ein. Er ist überzeugt, daß der Tufei sein Wort halten wird. Ebenso sicher weiß er aber auch daß die Jungen mit dem Multimillionär gar nichts zu tun haben. Nun läßt der Kapitän Tom und Wang zu sich in seine Kajüte kommen. Sie ahnen nichts Gutes. Er blickt ihnen scharf in die Augen und fragt, ob sie irgend etwas mit einem Millionär zu tun hätten, der ursprünglich ihre Kabine belegt hatte. "Nein? - Dann gebe ich euch hiermit das Fahrgeld nach Schanghai zurück!" 75 Dollar für eine einfache Fahrkarte an Tom und 57 1/2 Dollar für eine halbe Rückfahrkarte an Wang! Sie staunen. "Es tut mir leid, daß ihr Unbequemlichkeiten habt, aber ihr müßt noch einen oder zwei Tage in dem Küstenort hier bleiben. Wenn ihr die Wahrheit gesagt habt, wird man euch sicher nach Schanghai geleiten.

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Euren Vätern werde ich Nachricht schicken, sobald mein Funker wieder senden kann. - Wenn ich selbst noch ein Junge wäre, würde ich mich auf das Abenteuer freuen, das euch jetzt bevorsteht." Er drückt beiden die Hand, dann werden sie in das Motorboot der Seeräuber geführt. Ihr Gepäck steht schon auf dem Tisch der kleinen Kabine. Wieder stehen fünfzig Jungen an der Reling. Aber sie jubeln nicht. Viele haben Tränen in den Augen. Billy schluchzt laut.

In unbekanntes Land entführt

Der Bandenführer heißt sie in der Kabine des Motorbootes Platz nehmen und verbindet ihre Augen. Ihre Uhren bittet er für einige Zeit in Verwahrung nehmen zu dürfen. Mit ratterndem Motor fährt das Boot ein paar Kreise, dann wissen Tom und Wang nicht mehr, wo sie sind. Mit ihnen sitzt ein bewaffneter Tufei in der Kabine. Glücklicherweise klopft der Motor lauter als ihr Herz. "Wird das gut ausgehen?" fragt Tom. "Ich hoffe", antwortet Wang, aber seine Stimme ist nicht so frisch wie sonst. - Wang versucht sich auszudenken, wie man wohl aus dem Küstenort wieder fortkommt.

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In einer Sänfte entführt

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Der Pförtner des Seeräuberhauses

Mit verbundenen Augen sind Tom und Wang in einer Sänfte davongetragen worden. Als ihnen die Binde von den Augen genommen wird, stehen sie im Innenhof eines prachtvollen Gebäudes.

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Dampferverbindung gibt es nicht. Bestimmt auch keine Eisenbahnverbindung. In ganz China gibt es ja nur ein paar große Eisenbahnlinien. Die kann jeder chinesische Junge aus dem Kopf hersagen. Kaulun-Kanton, Kanton-Hankau, Hankau-Peking, Tientsin-Nanking, Nanking-Schanghai, die Lunghaibahn - Wenn sie in irgendeinem Küstenort der Biasbucht gebracht werden, müssen sie mindestens 250 Li (125 km) von irgendeiner Station der Kaulun-Kantonbahn entfernt sein. Auch von Autostraßen in diesem Teil der Kwangtungprovinz hat Wang nie etwas gehört. Er sieht die Karte seiner Heimatprovinz vor sich, wie sie damals vor ihnen hing, als er noch in Kanton in eine chinesische Schule ging. An der Küste zieht sich eine Bergkette entlang. Kailungschan, das heißt das Drachentorgebirge! Es wird in vielen Geschichten genannt. Von dort kommen die Bergräuber, die die kantonesischen Reisdschunken auf dem Ostfluß überfallen. Auch Tom denkt an die Weiterreise nach Schanghai. Ihm ist es klar, daß das Seeräuberboot sie nicht nach Hongkong zurückbringen wird, damit sie dort einen andern Dampfer nach Schanghai besteigen können. "Können wir nicht auch mit der Eisenbahn bis Freitag in Schanghai sein?" fragt er, "vorausgesetzt, daß diese Herren uns nicht länger als einen Tag festhalten .. ." Wang muß lachen, obgleich er keineswegs in freudiger Stimmung ist. "Nein, Tom, du hast von den Verkehrsverhältnissen und der Weite Chinas noch keine rechte Vorstellung. Die Provinz Kwangtung allein ist ungefähr so groß wie Deutschland, sie hat 40 Millionen Einwohner, aber nicht mehr als 400 Kilometer Eisenbahnen. Die Bahnfahrt nach Schanghai, über 1500 Kilometer durch fünf Provinzen, dauert mindestens 72 Stunden.

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Das ist schon mehr als die planmäßige Fahrzeit der "Suiwo". Bis wir aber eine Bahnstation erreichen, werden mindestens drei weitere Tage vergehen. Auf schmalen Bergpfaden werden wir über 100 Kilometer zu Fuß gehen müssen. Denn unser Geld wird für eine Sänfte kaum reichen. .." "Eine Sänfte? So etwas hat es in Deutschland im Mittelalter gegeben." - "In China ist sie noch heute allenthalben in Gebrauch. Die Bergpfade und die Wege zwischen den Reisfeldern sind so schmal, daß keine Wagen darauf fahren können. Wer es sich leisten kann, nimmt eine Sänfte mit zwei oder vier Trägern. Sie laufen bis zu fünfzig Kilometer am Tag. - "Merkwürdiges Land", denkt Tom. Seine Neugier, es kennenzulernen, ist größer als die Furcht vor dem Ungewissen.

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Der Seeräuberführer

Die Räuberhöhle sieht anders aus als Tom sie sich vorgestellt hat. Um mehrere Höfe herum liegen Wohnräume. Zwischen den blumengeschmückten Höfen sind runde und vieleckige Durchgänge. Wang will Tom gerade den Goldfischteich in einem Hofe zeigen, da kommt der Bandenführer aus der Tür der Ahnenhalle. Die große dunkle Brille verdeckt wie immer seine Augen, aber sein Mund lächelt freundlich.

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Im Seeräuberdorf

Jetzt übertönt ein Ruf des Bandenführers den Motorenlärm. "Lauda, haula!" - "Bootsführer, anhalten", übersetzt Wang. Das Boot legt an. Die Jungen werden an Land geführt. Tom erkennt unter seiner Binde den schmalen Steg. Es riecht nach Seetang, Fischernetzen und Opiumrauch. Hunde kläffen. Einer jault auf. Jemand wird einen Stein auf ihn geworfen haben. "Versucht nicht, eure Binden zu lockern!" warnt sie der englischsprechende Anführer, "in einigen Minuten werde ich sie euch selbst abnehmen." Tom wird auf einen Sitz gedrückt, dann angehoben. Er greift unwillkürlich nach einem Halt. Seine Finger umklammern eine Bambuslehne. Dann bewegt sich der Sitz rhythmisch schwingend vorwärts. Ein komisches Gefühl! So ähnlich war es, als Tom in Berlin im Hippodrom zum erstenmal auf einem Pferderücken saß. "Aha", denkt er, "eine Sänfte!" Schon stimmen die Träger ihr Traberlied an. "Hä, ho, hä, ho, hä, ho..." Dazwischen knarren die Bambusstangen, an denen sein Stuhl getragen wird. "Nicht übel", denkt Tom, aber plötzlich hat er das Gefühl, in einer Luftschaukel zu sitzen. "Wang!!" schreit er. Als Wang antwortet, ist alles wieder gut. Eine Weile später hört das rhythmische Schwingen ruckartig auf. Toms Füße stehen wieder auf festem Boden. Seine Augenbinde ist naß von Schweiß. Lautes Rufen und Klopfen an einem Tor, das sich knarrend öffnet. Tom. wird hineingeführt. Wieder Knarren und das Bumsen eines schweren Riegels. Unter seinem Tropenhelm wird es Tom unerträglich heiß. Er nimmt den Hut ab und fächelt sich damit Luft zu. Im selben Augenblick wird ihm auch die Binde abgenommen. Da ist Wang, Gott sei Dank! Auch er ist von seiner Binde befreit, auch er hat einen hochroten Kopf. Ein alter Chinese in grauem Ischang verbeugt sich tief vor ihnen. "Ich bin der Kaimendi, der Pförtner. Mein Gebieter heißt die jungen Herren herzlich willkommen.

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In einer Viertelstunde erwartet er die ehrenwerten Gäste im Empfangszimmer. Wollen Sie es sich bis dahin in unserem bescheidenen Gastzimmer bequem machen!" Er verbeugt sich wieder und geht nach dem Gastzimmer voran. Tom kommt aus dem Staunen nicht heraus. Das ist keine Räuberhöhle, sondern eine neue Art von Märchenschloß, ein Märchengarten mit Wohnzimmern ringsum. Orangenbäume mit Blüten und goldgelben Früchten im Außenhof - ein sechseckiges Tor -, dann die Blütenpracht des Innenhofes, blühende Bäume, Palmen, Ziersträucher in kostbaren Steintöpfen, Lotosblüten auf einem Goldfischteich, grünglasierte Dachziegel über roten Säulen, goldene chinesische Schriftzeichen über allen Eingangstüren. Für Wang ist das alles nichts Neues. Ganz ähnlich ist das Haus seiner Väter in Kanton, in dem jetzt sein Onkel wohnt. Ähnlich sehen die Wohnanlagen aller reichen Chinesen aus. Im Gastzimmer, gleich links am Innenhof, stehen ihre Koffer vor diwanartigen Ruhelagern. Auf der roten Marmorplatte des Ebenholztisches prangt eine kostbare gelbe Vase. Der Wohlgeruch von Blüten erfüllt das Zimmer. Der Pförtner klatscht in die Hände und ruft "Lo!" Darauf erscheint ein Diener und bringt ihnen duftende heiße Handtücher zum Waschen. Als die heiße Feuchtigkeit auf ihrer Haut trocknet, empfinden sie eine angenehme Kühle. Die Türen aller Räume am Innenhof stehen offen, gegenüber sind Schreib= und Arbeitszimmer. "In diesem Gefängnis werde ich es schon einige Tage aushalten", sagt Tom zu Wang. Am meisten interessiert ihn die geschlossene große Tür gegenüber dem sechseckigen Durchgang. "Das ist die Ahnenhalle der Familie. Dahinter ist der Hinterhof mit Küche und ..." In diesem Augenblick kommt der Hausherr, der Bandenführer, mit einem himmelblauen Ischang angetan, aus der Tür der Ahnenhalle. Seine Augen sind von einer großen Hornbrille mit dunklen Gläsern verdeckt, aber sein Mund lächelt freundlich. "Ich hoffe, daß ihr euch in meinem armseligen Haus wohl fühlt", sagt er, wie es die chinesische Sitte vorschreibt. Er bittet sie, in das Empfangszimmer einzutreten. Hier stehen um einen großen runden Ebenholztisch ein halbes Dutzend Hocker, wie Tom sie noch nie gesehen hat: blaue Porzellantonnen mit Drachenmustern.

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Andacht vor der Ahnentafel

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Er setzt sich nur zögernd darauf nieder, empfindet aber bald die angenehme Kühle auf dem Sitz. Diener bringen Tee und einen großen Lackholzkasten, der viele Fächer hat. Darin sind Süßigkeiten, kandierte Früchte, Ingwer und Leitschies. An der Decke bewegt sich geheimnisvoll ein großes Tuch hin und her und erfüllt den Raum mit einem angenehmen Luftzug. Sie trinken ihren Tee und unterhalten sich mehr mit Verbeugungen und freundlichen Mienen als mit Worten. Ob Tom wohl die Leitschies möge, die es nur in der Provinz Kwangtung gibt, und ob er schon mit Stäbchen essen könne, fragt der Hausherr Wang auf Chinesisch. "Frag ihn, wann wir weiterreisen können", bittet Tom, aber darauf geht Wang überhaupt nicht ein. Der Hausherr entschuldigte sich, daß er dringender Geschäfte wegen nicht mit ihnen essen könne. Er steht auf und zieht sich in das Arbeitszimmer zurück. Ein Diener folgt ihm. Andere Diener tragen nun auf dem großen runden Tisch das Essen auf, viele, viele kleine Schüsseln mit Suppen, Fisch=, Fleisch= und Gemüsegerichten. Zuletzt stellen sie vor Wang und Tom je eine Schale Reis und legen Porzellanlöffel für die Suppe und Stäbchen aus Elfenbein daneben. Nur ein Diener bleibt im Raum. Er ist bereit, aus einem dampfenden Holzkübel Reis nachzufüllen. Die Jungen langen tüchtig zu, mit dem Eßlöffel in die Suppenschüsseln und mit den Stäbchen in vierundzwanzig andere Gerichte. Die Schüssel mit Hummerfleisch wird halb geleert, aus den andern nehmen sie nur einige Häppchen. Sie haben Mühe, ihre Reisschale zu leeren, wie es die Höflichkeit verlangt. Die Schüsseln mit den Resten gehen in die Küche zurück. In den 13 Räumen des Hauses gibt es ja auch noch andere Esser. Nun ist der letzte Diener hinausgegangen. Tom schaut sich nach allen Seiten um, bevor er Wang leise fragt: "Warum hast du ihn nicht nach der Weiterreise gefragt?" Wang antwortet ernst: "In China ist es sehr unhöflich, jemand zur Eile zu drängen." Dann setzen sie sich im Innenhof auf die Mauer, die den Goldfischteich umgibt. Die dicken Goldkarpfen schwimmen träge darin herum oder stehen regungslos im Schatten der großen Lotosblätter. "Man sagt in China, solche Goldfische würden über hundert Jahre alt", erzählt Wang. Aber er scheint selbst nicht recht daran zu glauben. Tom möchte lieber frei wie ein Seefisch sein. Er schaut sehnsüchtig über die Dächer des Innenhofes. Nur an einer Seite ragen die Dächer von Nachbargebäuden herüber. Sonst ist nur ein viereckiges Stück Himmel zu sehen. Die ganze Wohnanlage ist von einer hohen Mauer umgeben. Kein einziges Zimmer hat ein Fenster, welches nach außen führt. Es gibt nur eine Tür, und die bewacht der Kaimendi.

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Langeweile und Zeitvertreib

Der Hausherr läßt sich nicht wieder sehen. Keine Frau, keine Kinder scheinen hier zu leben. Tom möchte weitere Räume des Hauses kennenlernen, will aber nicht wieder unhöflich sein. Als Gäste des Hauses können sie die Ahnenhalle jederzeit betreten. Sie ist ein Durchgangsraum zum hinteren Hof. Aber sie enttäuscht Tom. Sie ist ein Raum wie Gast= und Empfangszimmer auch, nur größer und höher, dunkler und -leerer. Sie enthält nichts als den Altar, einen schlichten Tisch, auf dem die Ahnentäfelchen aufgestellt sind, schlichte Holzbrettchen mit den Namen teurer Verstorbener. An der Wand dahinter hängt ein auf Seide gemaltes Bild eines erlauchten Ahnen, rechts und links davon Spruchbilder: je vier chinesische Schriftzeichen, mit schwarzer Tusche auf rote Seide gemalt. "Kannst du das lesen?" fragt Tom. Wang zeigt mit dem Finger auf die einzelnen Bildzeichen und liest: Kin yü man tang Goldfische füllen den Teich Kin yü man tang Gold, Edelsteine füllen die Halle. "Bitte, noch mal!" sagt Tom. Wang liest noch mal. "Aber du sprichst zweimal dieselben Wörter, und die Bildzeichen rechts und links sind verschieden!" "Das ist das Geheimnis der chinesischen Sprache.

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Dasselbe Wort, mit einem andern Ton gesprochen, hat eine andere Bedeutung. Die Nordchinesen haben vier, wir Kantonesen neun verschiedene Töne. Yü kann Fisch heißen; mit einem leicht veränderten Ton gesprochen bedeutet es aber auch Edelstein oder Edelsteine. Tang heißt - mit verschiedenem Ton gesprochen - entweder Teich oder Halle!" "Wer das lernen will, muß wohl sehr musikalisch sein", meint Tom. "Anders ist es mit unserer Schrift. Ihre Zeichen sind eindeutig. Es sind Bilder. Sieh her! Dieses Zeichen Tang ist eine Halle = der Fußboden, das Zimmer und ein Dach." Tom staunt. Solange er nichts Besseres zu tun hat, will er diese beiden Sprüche lernen. Die Aussprache und die Schrift. Kin yü man tang. Kin yü man tang. Er läßt sie sich von Wang so oft vorsprechen und vorschreiben, bis er sie kann. Nicht nur mit Bleistift, zuletzt auch mit Pinsel und Tusche, die sie im Schreibzimmer finden. Der Hausherr ist nicht mehr in diesem Zimmer. Ob er das Haus verlassen hat? Als sie in ihr Zimmer zurückkehren, liegen ihre Uhren auf ihren Betten. Es ist schon nach 17 Uhr. Bald wird es dunkel werden. "Und dann...?" fragt Tom. "Dann werden wir mit den Hühnern zu Bett gehen. Elektrisches Licht gibt es in chinesischen Dörfern nicht. Die Öllampen brennen allzu trübe ..." Der Diener ruft sie in den Speiseraum an den gedeckten Tisch. Nun sind es dreißig Gerichte. Das leckerste sind Bambusschößlinge und gebratene Haut vom Spanferkel. Sie trinken einige Gläschen lauwarmen Reiswein dazu. Um halb sieben liegen sie auf den Bambusmatten ihrer Diwane. Der Mond scheint in den Innenhof. Ab und zu bellt in der Ferne ein Hund. Sonst ist es ganz still. Tom sagt noch immer die Sprüche vor sich hin. Kin yü man tang. Kin yü man tang. Wenig später liegen beide Jungen in tiefem Schlaf.

Nächtliche Überraschung

Heftiges Klopfen an der Außentür und laute Rufe "Kaimendi! Kaimendi!" bringen die Dienerschaft des ganzen Hauses auf die Beine. Auch Tom und Wang liegen horchend wach. Jemand eilt mit einer Sturmlaterne über den Innenhof, in den der Mond noch lange Schatten wirft. "Ich glaube", sagt Wang freudig erregt, "wir werden..." "Ihr seid frei!" Der Hausherr steht plötzlich mitten in ihrem Zimmer. Die Sturmlaterne des nachfolgenden Dieners wirft gespenstische Schatten auf sein Gesicht. Auch zu dieser nächtlichen Stunde trägt er seine dunkle Brille. "Ihr müßt sofort aufbrechen! Meine Sänftenträger sollen euch an den Ostfluß bringen. Von dort könnt ihr mit einem Flußboot bequem weiterreisen." Die Jungen springen von ihren Betten auf. "Nun paßt gut auf, was ich euch sage! Wenn ihr bis an den Fluß mit keinem Menschen sprecht, niemanden fragt, wie die Orte am Wege heißen und niemandem sagt, woher ihr kommt, so sollt ihr für eure Unbequemlichkeiten jeder 300 Dollar haben. Nur eine Bedingung müßt ihr noch erfüllen: Bis der Tag anbricht, müßt ihr wieder eine Augenbinde tragen. Ich werde sie euch selbst anlegen.

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Tom lernt chinesisch schreiben

Was man in China schreiben nennt, ist in Wirklichkeit ein Malen mit Pinsel und Tusche. Haardünn ist die Spitze des Pinsels. Man mahlt damit nicht nur die dicken Striche der chinesischen Zeichen, sondern auch die ganz feinen Nebenstriche und Pünktchen. Am besten geht es, wenn Du den Pinsel genau senkrecht hältst". ,,Das Malen von Schriftzeichen gilt in China als die höchste Kunst. Schönschreiber ist ein hochangesehener Mann."

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Der Vormann der Träger wird sie euch beim fünften Trägerwechsel wieder abnehmen." Tom weiß nicht, worüber er sich mehr freuen soll, über die schnelle Befreiung, oder über die 300 Dollar. Vor Freude kneift er Wang in den Arm. Willig lassen sie sich die Binden wieder anlegen. - Vor dem Tor besteigen sie bereitstehende Sänften. Die Träger laufen Trapp. Hä ho, hä ho. Manchmal lehnt Tom schwer gegen die Rücklehne der Sänfte, manchmal rutscht er nach vorn fast vom Sitz. Es geht bergauf und bergab. Die Nacht ist warm. Tom riecht den Schweiß der Träger. An ihren Stimmen erkennt er, daß die Sänfte vorn und hinten von je zwei Mann getragen wird. Andere laufen ohne Last nebenher oder tragen das Gepäck. Alle zehn Li, d. h. nach etwa einer Stunde Weges, ist Trägerwechsel. Dabei wird die Sänfte nicht einmal abgesetzt. Aber Tom spürt, wie die Bambustragstangen auf andere Schultern gelegt werden. Er zählt die Wechsel. Nach dem dritten wird es kühler. Sind sie höher in die Berge gekommen, oder ist es die Kühle vor der Morgendämmerung? Tom denkt an nächtliche Zeltfahrten in der Heimat. Dabei muß er eingenickt sein.

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Beim Stolpern eines Trägers wacht er wieder auf. Hat er einen Wechsel verschlafen? Plötzlich lautes Rufen "Haula, tschifandi!" Das Wort hat Tom gestern beim Essen gehört. Die Sänfte wird abgesetzt. Tom streckt seine Beine. Ihm schmerzen die Knie. Der Vormann nimmt ihm die Binde ab. Wang sitzt in seiner Sänfte neben ihm. Sie lächeln sich an, aber sie sagen kein Wort.

Mit der Sänfte auf Bergpfaden

Es ist halb sechs. Die Sonne muß eben aufgegangen sein. Wie ein glutroter Ball steht sie rechts über den Bergen. Nur der Vormann bleibt bei den Jungen. Die Träger eilen in eine einsame Herberge am Bergweg. Sie haben ihren Reis und eine Schale Tee wohl verdient. Ein Träger bringt Reis und Tee für Tom und Wang an die Sänfte. Nach zehn Minuten geht es schon weiter. Toms Sänfte ist vorn, Wangs Träger folgen etwa fünfzig Meter hinterher. Der Bergpfad ist nicht mehr als einen Männerfuß breit. Wenn er besonders steil ist, sind die Felsplatten zu Stufen geordnet. Die Träger haben nur Strohsandalen unter den bloßen Füßen. Ihre kurzen grauen Jacken kleben auf den schweißtriefenden Rücken. Sie tragen unter dem Strohhut ein Schweißtuch um die Stirn, damit der salzige Schweiß nicht in die Augen rinnt. Beim zweiten Trägerwechsel nach dem Frühstück ziehen sie die Jacken aus. Tom staunt über ihre wohlgeformten braunen Rücken. An einem Bergbach setzen sie die Sänften einmal wieder auf den Boden. Schlürfend trinken sie das kühle Naß aus hohlen Händen. Der Vormann nutzt die Unterbrechung, um ein Sonnendach auf die Sänften zu zaubern. Mit geübten Händen befestigt er ein weißes Stück Tuch an schnell geschnittenen Bambusstäben. Tom holt sich indessen seine Sonnenbrille aus seinem Koffer. Später umgehen sie ein größeres Dorf auf Seitenpfaden.

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Hier sind nasse Reisfelder, die für die zweite Ernte mit Büffeln gepflegt werden. Fast bis zum Bauch versinken die Büffel im Schlamm. - Um die Mittagszeit machen die Träger eine mehrstündige Pause. An einem Bergpaß steht einsam eine Wohnanlage, die ähnlich wie das Haus des Bandenführers gebaut ist. Erst im Innenhof werden die Sänften abgesetzt, das Außentor wird wieder geschlossen. Nachdem die Träger ihren Reis mit etwas Gemüse und Sojasoße gegessen haben, ziehen sie sich in die Schlafräume am Außenhof zurück. Für Tom und Wang trägt der Vormann das Essen im Gastzimmer auf. Hier strecken sie auf Bambusbänken ihre Beine. Tom rechnet nach, wieviel Li sie schon gemacht haben mögen; etwa fünfzig waren es bis zum Frühstück, weitere 60 bis zur Mittagspause. Ob sie wohl bald an dem Fluß sind und ihre 300 Dollar bekommen werden? Spät nachmittags endet der Weg an einem Fluß. Aber die Sänftenreise ist noch nicht zu Ende! Der Fluß hat keine Brücke. Ein flaches Fährboot liegt am Ufer, ein Fährmann ist nirgends zu sehen. In ihren Tragstühlen werden die Jungen auf das Boot gesetzt; der Vormann stakt es mit einer langen Stange auf die andere Seite. Dann geht es wieder im Trab über schmale, mit Felsenplatten belegte Pfade.

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 "Ihr seid frei!"

Auf den Bambusmatten des Räuberhauses sind Tom und Wang nach der langen Reise in der Sänfte in tiefen Schlaf gefallen. Heftiges Pochen an der Hoftür schreckt sie plötzlich auf. Der Räuberführer steht in ihrem Zimmer. Die Sturmlaterne des Dieners wirft gespenstische Schatten auf sein Gesicht.

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Büffel und Bauer beim Pflügen

 

 

Hongkong liegt auf einer Fläche von 1.108 kmē. Die Einwohnerzahl beträgt ca: 7.008.900. Hongkong liegt an der Mündung des Perlflusses in das südchinesische Meer. Das Gebiet Hongkongs erstreckt sich über eine sehr unregelmäßig geformte Halbinsel sowie 262 Inseln, von denen die wichtigsten Lantau (146,2 kmē), Hong Kong Island (88,3 kmē), Lamma (13,6 kmē), Cheung Chau, Peng Chau und Tsing Yi sind. Das Territorium wird in Hong Kong Island, Kowloon, New Territories und vorgelagerte Inseln (outlying islands) unterteilt.

Von den 1.104 kmē Fläche sind nur etwa 25 % genutzt. Dies liegt vor allem an dem sehr bergigen Relief mit vielen steilen Hängen; nur im Norden der New Territories finden sich größere Ebenen. Die höchste Erhebung ist der Tai Mo Shan mit 958 m, der Victoria Peak ist mit 552 m zwar nicht der höchste, aber bekannteste Berg Hongkongs.

Das Klima Hongkongs ist tropisch feucht. Jährliche Durchschnittstemperatur liegt bei 22,5 °C. Niederschlagsmenge von 2.409 mm. Im Januar bis März ist es kühl und trocken, April bis September ist heiß und regnerisch, Oktober bis Dezember ist es warm und trocken. Hongkong liegt an der Mündung des Perlflusses der in das südchinesische Meer fließt. Das Gebiet Hongkongs erstreckt sich über eine sehr unregelmäßig geformte Halbinsel sowie 262 Inseln. ( Lantau (146,2 kmē), Hong Kong Island (88,3 kmē), Lamma (13,6 kmē), Cheung Chau, Peng Chau und Tsing Yi ).