Nanking nach Peking

Reiseberichte Nanking nach Peking

Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

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China ist mit seinen Randländern Tibet, Sinkiang, Mongolei und Mandschurei der zweitgrößte Staat der Erde. Seine Fläche entspricht der Größe ganz Europas. Die Vereinigten Staaten von Amerika einschließlich Alaska sind etwas kleiner als China. 30 mal das Gebiet der Bundesrepublik würde die Fläche ausmachen, die das "Reich der Mitte" einnimmt. Mit 476 Millionen Einwohnern ist China bei weitem das dichtbevölkertste Land der Erde. Gesamteuropa mit 396 Millionen Einwohnern, Indien mit 357, die Sowjetunion mit 200 und die USA mit 150 Millionen folgen erst mit einigem Abstand. Der weitaus größte Teil der Menschen Chinas wohnt im eigentlichen China südlich der Großen Mauer, im Gebiet der Flüsse Hoangho (4150 km), Jangtsekiang (5200 km) und Sekiang (1250 km). Die Mongolei hat nur 2 Millionen Einwohner, Tibet 3 Millionen und Sinkiang 4 Millionen. Von den Randländern ist nur die Mandschurei dichter besiedelt (45 Millionen Einwohner). Korea ist in früheren Jahrhunderten mit China verbunden gewesen. Von 1910 bis 1945 war es eine japanische Kolonie, wurde dann frei und ist heute durch den 38. Breitengrad in eine russische und eine amerikanische Besatzungszone geteilt. Das Inselreich Japan ist etwa 11/2 mal so groß wie die deutsche Bundesrepublik, aber mit 84 Millionen Einwohnern noch dichter besiedelt als Westdeutschland. Dabei ist Japan ein Bergland ohne größere Ebenen. Nur ein Siebtel des japanischen Bodens kann landwirtschaftlich genutzt werden. Doch hat Japan von allen Ländern Asiens die größte Industrie und nimmt damit in mancherlei Hinsicht eine Sonderstellung ein.

 

Auf dieser Seite befindet sich der Teil Nanking nach Peking aus dem Sanella Album:

China Tibet Japan

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Mit dem Vater Richtung Peking

Tom nimmt seinem Vater die Gänge zum Reisebüro ab. Täglich gehen zwei durchgehende Expreßzüge mit Schlafwagen. Ab Nanking Dienstag früh, an Peking Mittwoch nachmittag. Oder ab Nanking Dienstag nachmittag, an Peking Mittwoch gegen Mitternacht. Tom rechnet nach. Rund dreißig Stunden Fahrt bei 1150 Kilometer Entfernung. Wahrlich kein übermäßiges Tempo! Neben» bei (und ohne väterlichen Auf» trag) erkundigt er sich auch, wann diese Züge in Taian und in Küfu halten. Taian, das ist die Station für einen Aufstieg auf Chinas berühmtesten heiligen Berg Taischan. In Küfu, dem Mekka der Konfuzianer, leben noch heute direkte Nachkommen des alten Weisen, dessen 2500. Geburtstag man 1949 in der ganzen Welt gedachte. An den beiden heiligen Orten möchte Tom nicht vorüberfahren. Auch wenn sein Vater keine Zeit hat. Der Nachmittagszug ab Nanking eignet sich viel besser für seinen Plan. Mit dem Frühzug käme er mitten in der Nacht in Küfu an. Vater Birkenfeldt hat viele Bedenken gegen Toms Pläne. Er möchte zu seinem geschäftlichen Ärger nicht auch noch neue Sorgen um Tom haben.Aber Herr Lebetanz ist auf Toms Seite.

Schanghai-Peking-Expreßzug,

Er schenkt Tom zum Abschied einen deutschgeschriebenen Reiseführer von Küfu und dem Taischan. Das Übersetzen des Schanghai-Peking=Expreßzuges mit der Eisenbahnfähre ist bei dem ewig wechselnden Wasserstand des Jangtsekiang eine langwierige Angelegenheit. Vater Birkenfeldt und Sohn lassen sich lieber mit einem Motorboot übersetzen und besteigen den Zug erst am andern Ufer in Pukau. Wieder beginnt für Tom eine Reise durch vier Provinzen: Anhui, Nordkiangsu, Schantung und Hopeh. Nördlich des Jangtse ändert sich das Landschaftsbild schnell. Das trockenere Klima läßt nur eine, höchstens zwei jährliche Ernten zu. Bambus ist nirgends mehr zu sehen. Überhaupt ist die Landschaft arm an Bäumen und Grün. Auf breiten, staubigen Feldwegen fahren Pony- und Eselkarren. Nasse Reisfelder sind selten. Sesampflanzen mit ihren fingerhutähnlichen roten Blüten, Hanf und Baumwolle, Hirse, Mais und Erdnüsse wachsen auf den Feldern. Gerade sind die kürbisgroßen Wassermelonen reif. Auf allen Bahnhöfen, die der Expreß durcheilt, hocken Reisende, die auf Bummelzüge warten; sie lutschen das leuchtend rote Fleisch der Melonen und spucken die großen schwarzen Kerne in die Gegend.

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Kormoranfischer

Auf vielen Flüssen und Seen Chinas sieht man die Kormoranfischer, die nicht mit Körben oder Netzen, sondern mit abgerichteten Kormoranen fischen. Paarweise sitzen die dressierten Vögel angebunden auf Stangen am Bootsrand. Mit ihren scharfen Augen erspähen sie jeden Fisch im Wasser, stürzen sich auf ihn und bringen ihn an Bord. Aber verzehren können sie die Fische nicht. Enge Metallringe an ihren Hälsen verhindern ein Hinunterschlucken.

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Vater und Sohn treffen sich in Nanking

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In Mingkwang nimmt die Lokomotive Wasser. 15 Minuten Aufenthalt. Schon ist Tom auf dem Bahnsteig und hat ein paar Kupfermünzen in der Hand, um sich auch ein Stück Wassermelone zu kaufen. Aber sein Vater verwehrt es ihm. "Morgen hast du Typhus oder Cholera!" Im Speisewagen bekommt Tom ein Stück Wassermelone zum Nachtisch. Das ist mit Wasserstoffsuperoxyd von Bakterien befreit. - Der Mond ist aufgegangen. Silbern glitzert das Wasser des breiten Hanflusses. Keine Dschunke segelt bei Nacht. Friedlich schaukeln kahle Masten am Ufer. Gespenstisch ragen die Stadtmauern von Pengpu über der Bahn auf. Plötzlich fährt es Tom durch alle Glieder.  An einem Galgen oben auf der Stadtmauer baumelt ein Gehängter im Wind. Eine Mahnung für die Bösen. "Mord kann nur durch Tod gesühnt werden", hat Konfuzius gelehrt.

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Küfu

In Küfu hält der Zug nur zwei Minuten. Vom Bahnsteig ruft Tom seinem Vater zu: "Treffpunkt Peking!" und "auf ein heiles Wiedersehen!" Dann pufft der Expreßzug weiter. Ohne alles Gepäck kommt Tom sich sehr leicht vor. "Du bist unser Mann!" begrüßt ihn plötzlich auf Englisch ein Chinese in europäischer Kleidung und schüttelt ihm die Hand. Vier andere, gleichgekleidete, junge Chinesen tun ein gleiches. "Wir sind Auslandschinesen, Studenten aus Singapore. Wir streiten uns schon seit Jahren um die Frage, ob die Lehren des Konfuzius noch in unsere Zeit passen oder nicht. Dies ist unser Freund Sun Lo. Er versteht auch Deutsch. Er hat uns gestern abend übersetzt, was du mit deinem Vater im Speisewagen gesprochen hast. Du gehst deine eigenen Wege. Konfuzius aber hat gelehrt: ,Der Vater hat unbeschränkte Gewalt über seine Kinder. Ein Sohn lebt in erster Linie für seine Eltern und zeigt ihnen Ehrfurcht. Er darf nicht mit ihnen streiten. Selbst wenn die Eltern ihn schlecht behandeln, darf er nicht murren!" "Tom hat ja auch keine Melonen ohne Superoxyd gegessen", ruft Sun Lo dazwischen, "also hat er des Konfuzius Wort befolgt, daß die Söhne ihren Körper, den sie den Eltern verdanken, unversehrt halten sollen." - "Aber Konfuzius hat auch gesagt: ,Die Söhne sollen bei Lebzeiten ihrer Eltern keine weiten Reisen machen, außer wenn der Kaiser es befiehlt', und danach hat Tom sich nicht gerichtet!" schließt Kwok Song, der Älteste der Gruppe, die Unterhaltung. "Wir wollen uns erst mal auf den Weg machen und Tom bitten, uns zu begleiten." Nur Freddy, der Jüngste, fährt Sun Lo noch einmal an: "Wenn wir Jungen in China immer nur das tun, was die Alten wollen, wird China nie ein modernes Land werden. Ich hasse die 300 Hauptregeln und 3000 Nebenregeln der konfuzianischen Lehre." Küfu ist ein kleines ummauertes Landstädtchen in der Schantungprovinz. Es liegt zehn Kilometer vom Bahnhof entfernt.

Schanghai-Peking-Expreßzug

Als deutsche Ingenieure um 1910 die Bahn bauten, durfte die Linie nicht bis an den heiligen Ort herangeführt werden. Die jungen Herren mieten sich zwei zweirädrige Maultierkarren und setzen sich mit hängenden Beinen auf die Deichsel. Nur Freddy muß unter dem engen Verdeck auf der ungefederten Achse sitzen. Denn Konfuzius hat auch gesagt, daß der jüngere Freund dem älteren Ehrerbietung schuldig ist. Der Fuhrmann geht auf dem staubigen, holperigen Landweg zu Fuß nebenher. Tom sitzt bei Sun Lo. Der nimmt das Gespräch vom Bahnhof wieder auf. "Wenn wir Chinesen uns nicht zwei Jahrtausende lang an die Lehren des Konfuzius gehalten hätten, dann wäre unser Reich ebenso wie die andern großen Reiche des Altertums untergegangen. China hat immer viele ehrfürchtige Söhne gehabt, die ihren Eltern und dem Reiche dienten. Jeder Junge, ob arm oder reich, konnte zu den höchsten Ämtern aufsteigen, wenn er die Lehren der Alten erlernte und befolgte und die Prüfungen bestand. Jeder Vater strebte danach, möglichst viele Söhne zu haben, denn nur männliche Nachkommen können die Ahnenopfer darbringen.

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So sagt Konfuzius: ,Solange die Eltern leben, müssen die Söhne ihnen nach der Sitte dienen. Wenn die Eltern gestorben sind, müssen die Söhne sie nach der Sitte begraben, 27 Monate um sie trauern und ihnen nach der Sitte opfern, solange sie leben." - "Bist du denn auch bereit, dir deine Frau von deinen Eltern aussuchen zu lassen?" fragt Tom. Darauf gibt Sun Lo keine Antwort mehr. Der Karren knarrt über eine Lotosbrücke in das Stadttor hinein. Konfuziustempel gibt es in mehr als 1500 chinesischen

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Begräbnis des Dr. Sun Yatsen

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Städten, aber in dem Landstädtchen Küfu ist der größte und schönste. Mit seinen 16 Toren, 15 Höfen und 15 Hallen füllt er ein ganzes Drittel der Stadt aus. Der Duft von Weihrauch und Ochsenfettkerzen und das Gedröhn von Pauken, Gongs und kunstvoll gegossenen Bronzeglocken erfüllt die Luft. Vor den Gedächtnistafeln, Bildern und Statuen des Konfuzius verbeugen sich Freddy und Kwok Song ebenso ehrfurchtsvoll wie Sun Lo und die vielen ländlichen Pilger. Priester und Mönche, . Sonntage und Predigten, gibt es im Konfuziustempel nicht. Überwältigt stehen Tom und seine Freunde vor dem Tempel der Großen Vollendung. Sein mächtiges Doppeldach wird von marmornen Drachensäulen getragen. Zehnmal hat der Bildhauer dasselbe Motiv gestaltet: zwei Drachen, die nach einer Perle schnappen. Reich vergoldet ist der Altarschrein drinnen; darin sitzt hinter einem perlenbestickten Seidenvorhang der große Weise. Eine halbe Stunde später sind sie in der Residenz des lebenden Kungtsenachfolgers. Auf das Empfehlungsschreiben der Studenten wird auch Tom mit eingelassen.

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Eine Weile müssen sie in der Empfangshalle warten. "Ich bin neugierig, ob der Nachkomme nach 77 Generationen noch Ähnlichkeit mit seinem Urahnen hat", flüstert Freddy seinen Freunden zu. Dann öffnet sich die Tür, ein Pekinghündchen kommt hereinspaziert und hinter ihm im Ischang, mit einem Fächer in der Hand und freundlich lächelnd, der etwa dreißigjährige Herzog Kung. "Herzog, der die Weisheit vererbt", ist sein Ehrentitel. Selbst die chinesischen Studenten können sich nicht mit ihm unterhalten. Ihren Kantondialekt und ihr Englisch versteht der Herzog nicht. Von seinen Hauslehrern hat er nur den Pekinger Norddialekt gelernt. Er ist nie auf Reisen gewesen, trotzdem sein Vater schon vor seiner Geburt gestorben ist. Zur Erinnerung schenkt er jedem Jungen ein Kinderbildnis von sich. "Von ihm selbst entwickelt", sagt der Diener, "der Herzog ist ein eifriger Amateurphotograph." Das Grab des alten Weisen ist zwei Kilometer außerhalb des Nordtores der Stadt. Eine schattige Allee alter Zypressenbäume führt dahin. Tom erwartet etwas wie das Sun=Yatsen=Mausoleum in Nanking. Aber das Grab dieses großen Mannes, der, wie die Chinesen sagen, zehntausend Generationen gelehrt hat, ist ein einfacher, mit Gras und Gesträuch bewachsener vier Meter hoher Hügel. Davor steht ein mit Drachen geschmückter Gedenkstein mit der Inschrift "Grab des großen Vollendeten, höchst heiligen, Kultur verbreitenden Königs". "Ein König war er ja gar nicht!" meint Freddy, "er war ein Aufseher der Kornspeicher und später Minister im Schantunger Fürstentum Lu."

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Auf dem heiligen Berg Taischan

Auf der Rückfahrt im Maultierkarren und im Zug nach Taian streiten sich die fünf um Kungtses Lehre. Sun Lo ist Konfuzianer , Fu Konfuzianer und Buddhist, Lao Taoist und Freddy christlich erzogen. "Es gibt leider nur drei Millionen Christen in China", sagt Freddy, " aber vierhundert Millionen Konfuzianer." Tschiangkaischek, hat eine Erneuerung der konfuzianischen Sitten versucht, aber Mao Tse=tung ist ein Gegner dieser Lehre. Vom Taischan schreibt Tom an Wang eine Postkarte.

Lieber Wang, ich habe mit fünf Studenten aus Singapore ein Wettrennen auf den Taischan gemacht. Vom Stadttempel in Taian bis zu dem Konfuziustempel auf dem Gipfel sind 5858 Stufen!! Wir haben sie nicht gezählt, aber fromme Pilger wußten die Zahl genau. Ich habe das Rennen über 40 Li gewonnen. In drei Stunden und 32 Minuten war ich oben. Der Reiseführer gibt die Aufstiegzeit mit sechs Stunden an! Wie ganz anders ist hier alles als auf dem Höngschan. Nackte, bizarre Gneisfelsen und wenig Grün. Nur einzelne, sturmzerzauste Kiefern bei den Wasserfällen, Brücken und Tempeln. Ströme von Schweiß haben wir auf den Felsentreppen vergossen. Oben hätten wir uns am liebsten wie die Pilger in Decken gewickelt. Vom 1545 m hohen Gipfel soll man an klaren Wintertagen bis zum Gelben Meer sehen können. Wir sahen nur das Silberband des Gelben Flusses. Von SO zogen Regenwolken auf, und abwärts sind wir noch schneller gerannt. Morgen mittag bin ich bei meinem Vater in Peking, Nordhotel. Bereite Dich darauf vor, daß wir die Jangtsefahrt bald machen. Treffpunkt Hankau. Ich schicke ein Telegramm. Viele Grüße an Euch alle.

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Der Dichter Li Tai-po im See

Felsen und Wasser, im Winde schwankende Zweige und vom Wasser gewiegte Lotosblätter bedeuten allen Chinesen köstlichen Anblick. Ihr größter Dichter Li Tai-po hat schon vor mehr als 1200 Jahren Gedichte darüber Geschrieben. Sie sind noch heute bei Jung und Alt, Arm und Reich bekannt. Auch Rikschakulis kennen die Verse auswendig. Das Teehaus am Lotosteich bei Nanking, In dem Li Tai-Po so oft zu Gast war, ist ein lebendiges Denkmal für den Dichter.

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Prinz Kung begrüßt Tom und die chinesischen Studenten.

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Das Geheimnis des Gelben Lama

Mitternachtsstunde. Der Bahnhof von Taian liegt ebenso wie die Stadt in tiefem Schlaf. Mit bleiernen Beinen sitzt Tom auf einer Bank des ländlichen Bahnsteigs und blinzelt den Mond an. Zweimal sind ihm die Augen schon zugefallen. Tom hat Angst, daß er einschläft und den Zug verpaßt. Außer ihm scheint zu dieser Stunde niemand mitfahren zu wollen. Doch da kommen schlürfende Schritte auf Tom zu. Ein Mann mit einer Papierlaterne. Sein gelbes Gewand leuchtet im Laternenschein golden wie der Mond. Ein Lama, ein buddhistischer Mönch aus Tibet? Er kommt so dicht an Tom heran, daß jeder den andern atmen hört. Maskenhaft wirkt das dunkelhäutige, zerfurchte Gesicht unter dem hohen gelben Hut. Tom will einen Schritt zurücktreten, aber er ist von dem Blick des Lamas wie hypnotisiert. Fest hält der Fremde seinen Arm. "Du, fremder Jüngling, sei ein Werkzeug des Erhabenen! Tibet, das Land der Gelbblüte, ist in Gefahr. Die neuen Herren Chinas wollen es verderben." Er läßt Tom los und zieht den gelben Hut von seinem glattrasierten Schädel. "Nimm diesen Hut! Trage ihn heimlich zum Yung Ho Kung, dem Tempel der Lamas in Peking! Der Lohn des Erhabenen wird dir gewiß sein, wenn du den Auftrag erfüllst. Doppeltes Unheil aber wird über dich kommen, wenn du nicht heimlich zu Werke gehst. Tsong Kha=pa wird dich verdammen, und die Häscher Mao Tse=tungs werden dich ins Gefängnis werfen. Dieses Amulett wird dich schützen." Seinem Ärmel entnimmt er eine kleine vergoldete Buddhafigur aus Ton und steckt sie in den Hut. "Hier hast du Papier, beides zu verbergen. Da braust der Zug heran. Der Lama hilft Tom auf das hohe Trittbrett eines Abteils. "Es ist in deine Hand gegeben, ob das Erbe Buddhas in Tibet verlorengeht oder nicht." Tom ist wie betäubt. Er verbirgt Hut und Papier in seiner Jacke, bevor der verschlafen dreinblickende Schlafwagenboy kommt und ihm sein Bett anweist. Im Nebenbett schnarcht einer. Tom steckt die Jacke mit ihrem Inhalt unter sein Kopfkissen. Trotz seiner Müdigkeit kann er lange nicht schlafen. Soll er den Hut kurzerhand aus dem Fenster werfen? Am besten gleich in den Hwangho, wenn der Zug über die 1300 Meter lange Brücke rollt? Er kommt zu keinem Entschluß. Erst hinter Tientsin erwacht er. Zweieinhalb Stunden später ist der Zug in Peking.

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Peking

Die gewaltige Kaiserstadt des Nordens, jetzt Sitz der Regierung Mao Tse=tungs, hat mächtigere Mauern und Türme als Nanking. Der Kaiserpalast in der bis 1911 "verbotenen Stadt" ist gut erhalten. In Peking gibt es Seen und Pagoden und breite Straßen wie in Hangtschau, mehr Tempel und Theater als in Hongkong, Nanking und Sutschau zusammengenommen, enge Handwerkerstraßen wie in Kanton und einen Straßenverkehr mit Trägern und Rikschas, Einrad= Esel= und Maultierkarren, Autobussen, Straßenbahnen und Luxuslimousinen wie nur irgendwo in China. Über dem allen aber wölbt sich hier ein strahlend blauer Himmel, und die Kamelkarawanen der nördlichen Wüste Gobi ziehen durch die staubigen Straßen der Stadt dahin. Peking ist ein Abbild des ganzen, großen China und doch eine einzigartige Stadt, einzigartig in China und in der ganzen Welt. Die Bahn ist bis mitten in die Stadt hineingeführt. Toms erster Blick nach der Durchfahrt durch die Südmauer fällt auf das dreigestufte blauglänzende Dach des Himmelsaltars, der in jedem Erdkundebuch abgebildet ist.

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Der Gelbe Lama mit der Laterne

Todmüde sitzt Tom auf einer Bank auf dem Bahnsteig in Küfu. Nach dem Wettrennen über die 5858 Stufen des Taischanberges sind seine Beine wie gelähmt. Aber er darf nicht einschlafen, gleich muß der Zug kommen, der Tom nach Peking bringen soll. Da nahen sich schlürfende Schritte Ein Lama im gelben Gewand, eine Papierlaterne in der Hand. Tom sieht ein dunkelhäutiges, zerfurchtes Gesicht. Ganz nahe kommt er an Tom heran. Was will dieser Fremdling von ihm?

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Doch von all den Palästen und Pagoden, Toren und Tempeln interessiert Tom jetzt nur eins: der Lamatempel im äußersten Nordosten der Stadt. Hat nicht der Polizist an der Sperre ihn mißtrauisch angesehen. Sehen nicht alle Polizisten an den Straßenkreuzungen ihn mit besonderen Augen an? Schon auf dem Wege zum Nordhotel, im Stadtteil der fremden Gesandschaften, kauft Tom sich einen Stadtplan. Sein Vater ist nicht im Hotel. Erst zum Abendessen wird er heimkommen. So hat Tom endlich Gelegenheit, sich hinter einer verschlossenen Tür das anzusehen, was der Gelbe Lama ihm gegeben hat. Das Einwickelpapier ist eine Pekinger Zeitung in englischer Sprache. Ein Artikel ist rot angestrichen. Die Überschrift heißt: Gelbe Lamas gegen eine Vereinigung von Tibet und China - Die Flucht eines Verschwörers. Tom sieht noch einmal nach, ob er den Zimmerschlüssel auch wirklich umgedreht hat. Wird er nicht selbst ein Verschwörer, wenn er den Hut in den Tempel bringt? Der Hut! Eigentlich ist es eine Mütze, eine ledergefütterte Wollmütze, die aber durch einen hochstehenden mähnenartigen Kamm hutartig wirkt. Das Lederfutter ist schmutzig und fettig. Tom wagt nicht, die Mütze aufzusetzen. Aber knistert nicht Papier darin? Sollte da eine Nachricht eingenäht sein? - Der Rand des Amuletts ist mit einer Perle und drei perlengroßen Edelsteinen besetzt: jadegrün, topasbraun und rubinrot. Ein Stein fehlt. Offensichtlich hat er sich aus dem Ton gelöst. Hat Tom ihn schon verloren? Eilig wickelt er alles wieder ein und verbirgt es in seinem Koffer. Seinem Vater will er nichts davon sagen. Abends freut dieser sich, daß Tom wieder da ist. Aber er ist wortkarg. Seine geschäftlichen Besprechungen sind noch nicht einmal in Gang gekommen.

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Im Lamatempel

Das Nordhotel liegt an der breiten staubigen Hatamenstraße, die, fast sieben Kilometer lang, schnurgerade vom Himmelstempel in der Chinesenstadt bis zum Lamatempel an der Nordmauer der Tatarenstadt führt. Wenn man sie mit der Rikscha entlangfährt, sperren hölzerne Pailus (Ehrenbogen) die Sicht. Bei jedem Pailu und jeder Straßenkreuzung steht ein Polizist, der sich alle Passanten genau ansieht. Tom klopft das Herz. - Die "Lamaserei des ewigen Friedens", eine ehemalige kaiserliche Residenz, wurde von einem Mandschukaiser, der zum Lamaglauben übertrat, den Lamas geschenkt. Sie besteht aus vielen Hallen und Pavillons. Gelb glasiert sind die Dächer der Hauptgebäude. Ein Tor steht weit auf, Lamas strömen herein. Auf einem weiten gepflasterten Hof warten Hunderte von Mönchen auf das Zeichen zur Morgenandacht. Kindliche Novizen spielen wie Jungen auf einem Schulhof herum. Nur ein kleiner Teil der Lamas trägt gelbe Gewänder, die meisten sind rotgelb oder ziegelrot gefärbt. Tom weiß nicht, an wen er sich wenden soll.

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Keiner der Lamas trägt die gelbe Mütze. - Da ertönt das Zeichen zur Andacht. Die Töne von Pauken, Becken und Seemuschelschalen mischen sich zu einer durchdringenden, überirdischen Harmonie. Die Lamas ordnen sich zu langen Reihen und schreiten in die Gebetshalle hinein. Sie knien nieder. Vor einer Buddhastatue mit gelber Mütze thront der Abt. Mit einem Pfauenwedel gibt er das Zeichen zum Gebet. In die lautlose Stille bricht von neuem der Ton der Becken und Muscheln. Dumpf dröhnt dazu der Chorgesang der Mönche. Ihre verzückten Gesten verraten, daß sie in eine andere Welt eingegangen sind. - Wieder Stille. Lautlos schreiten die Lamas hinaus. Tom tritt vor den Abt hin, der noch verzückt auf dem Thron sitzt. Er scheint Tom überhaupt nicht zu sehen. Da zieht Tom den gelben Hut unter seiner Jacke hervor. Wie elektrisiert springt der Abt auf. Er bedeutet Tom, ihm in die Haupthalle zu folgen. Niemand ist darin. Sorgfältig verriegelt der Abt von innen die Tür. Toms Augen müssen sich an das Halbdunkel gewöhnen. Nur oben fallen einige Lichtstrahlen ein. Die Mitte des Raumes ist über zwanzig Meter hoch. Fast bis unter das Dach ragt eine große stehende Buddhafigur durch mehrere Stockwerke von Galerien auf. Es ist nicht der dicke lächelnde Buddha. Ernst schauen seine Augen in die Welt. Der Abt kann seine Erregung kaum verbergen. Fast entreißt er Toms Händen den Hut. Mit einem Griff hat er das verborgene Papier in der Hand. Er überfliegt das Geschriebene. Dann ist er wieder der würdige Abt. Aus einem Geheimfach des hölzernen Riesenbuddha entnimmt er eine kleine tönerne Buddhafigur und überreicht sie Tom mit einer tiefen Verbeugung.

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Wettrennen auf den Taischan

Mit fünf chinesischen Studenten aus Singapore macht Tom ein Wettrennen auf den Taischan, den großen, heiligen Berg. Vom Stadttempel in Taian am Fuße des Berges bis vor den Konfuziustempel auf dem Gipfel sind es 5858 Stufen! Fromme Pilger haben sie genau gezählt. Tom gewinnt das Rennen. In 3 Stunden und 32 Minuten ist er oben, obgleich der Reiseführer die Aufstiegszeit mit 6 Stunden angibt. Heiß brennt die Sonne auf die Stufen. Nackte bizarre Gneisfelsen gewähren nur selten Schatten.

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Im Pekingkarren vor den Stadttor von Küfu

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Tom erschrickt. Die Figur gleicht seinem Amulett in allen Einzelheiten. Aber am Rand fehlt kein Stein. Zwischen dem jadegrünen und der Perle ist ein leuchtend gelber Topas. Der Abt ergreift Toms Arm und tippt auf die Zehn seiner Armbanduhr. "Men", sagt er, und deutet dabei in die Richtung des Tempeltores an der Straße. Tom nickt. Er versteht. "Um 10 Uhr am Straßentor." Er hat eine halbe Stunde Zeit, sich in der Lamaserei umzusehen. Im zweiten Hof ist auf einer Steintafel die Geschichte der Lamakirche in chinesischer, tibetanischer, mongolischer und mandschurischer Schrift eingehauen. Mönche und Besucher des Tempels drehen eifrig die im Freien aufgestellten Gebetsmühlen. Jede Umdrehung gilt für tausend Gebete. Zehnmal läßt auch Tom die Gebetstrommel kreisen. Punkt zehn Uhr ist er am Tor. Ein Lama mit gelbem Hut drückt ihm eine in Zeitungspapier eingewickelte Rolle in die Hand. "Can go Lhasa", flüstert er ihm freundlich lächelnd zu. Tom wagt es nicht, das Päckchen in der Rikscha zu öffnen. Das Einwickelpapier ist eine ganz neue Zeitung. Sofort fällt Toms Blick auf zwei dicke Druckzeilen:

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REGIERUNGEN IN PEKING UND LHASA WOLLEN ÜBER EINEN ANSCHLUSS TIBETS AN CHINA VERHANDELN! DER ABT DES PEKINGER LAMA=KLOSTERS REIST NÄCHSTE WOCHE NACH LHASA, FLIEGT BIS BATANG.  

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Im Hotelzimmer schließt Tom sich wieder ein. Die Rolle ist ein vier Meter langes, ellenbreites Seidenband, je ein Stück weißer und rot=, blau=, schwarz= und gelbgefärbter Seide. Auf jeder Farbe steht in einer anderen Schrift ein Text; unter jedem ist ein großes rotes Siegel. Ganz am Ende, um den Rollstab gewickelt, ist auf weißem Briefpapier eine Mitteilung in Englisch eingeheftet. "Tom Birkenfeldt, ein deutscher Junge, ist eingeladen, den Abt des Lamatempels in Peking auf seiner Reise nach Lhasa zu begleiten. Abflug vom Nan Yüan=Flugplatz. PS. Die genaue Zeit wird durch einen geheimen Boten mitgeteilt." Tom hüpft das Herz vor Freude. Seinem Vater will er nicht eher etwas sagen, als bis die Reise ganz sicher ist. An Wang schreibt er sogleich einen Brief, daß die Jangtsefahrt aus besonderen Gründen vorerst aufgeschoben werden muß. Dann eilt er in Cooks Reisebüro im Gesandtschaftsviertel und besorgt sich Prospekte der chinesischen Fluglinien und eine Karte von Tibet.

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Tom in einer Rikscha

Seit Tom den geheimnisvollen Lamahut mit sich trägt, kommt er sich allenthalben wie ein Verschwörer vor. Sehen nicht die Polizisten an allen Straßenecken ihn mit mißtrauischen Augen an? Durchbohren sie mit ihren Blicken nicht das ärmliche Papier, in das der Hut eingewickelt ist? Tom spornt den Rikschakuli zu äußerster Eile an. "Zum Lamatempel am Antingtor! Kwaiti! Kwaiti!" (Schnell, schnell.)

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Einradkarren

Seit Hunderten von Jahren steht der unvergleichlich schöne Himmelstempel in der Chinesenstadt von Peking. Die Welt um ihn herum hat sich merkwürdig verändert. Statt kaiserlicher Sänften kommen neuerdings Rikschas und Luxusautos in seine Nähe. Eines der merkwürdigsten Gefährte des alten China ist der noch viel gebrauchte Einradkarren mit dem großen Rad in der Mitte. Wenn seine Ladefläche von schweren Lasten oder auch von sechs Personen besetzt ist, gehört viel Erfahrung dazu, ihn im Gleichgewicht zu halten.

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Die Entfernung Peking-Lhasa beträgt fast 5000 km. Hui! Das ist nicht viel weniger als von Berlin nach New York! In Tibet scheint es noch keinen einzigen Flugplatz zu geben. Batang liegt 500 km westlich vom chinesischen Großflugplatz Tschengtu. Aber von Batang nach Lhasa sind es noch 800 km über Land... Soll er sich ohne Wang in ein solches Abenteuer einlassen? Tom hat nun Zeit, sich die Wunder Pekings anzusehen. Aber zum Mittag= und Abendessen ist er immer pünktlich im Hotel. Er will es dem Boten leicht machen, ihn zu finden. Sein Vater hat selbst an Sonntagen keine Zeit für gemeinsame Ausflüge. An einem Freitag, als Tom gerade zum Sommerpalast aufbrechen will, ist der Bote da. "Abflug Sonnabend, 8 Uhr, Nan Yüan=FlugpIatz." Vater Birkenfeldt gibt Tom nicht nur seine Einwilligung, er schenkt Tom sogar einen großen Pekinger Pelzmantel und Pelzmütze und Pelzstiefel dazu!

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Flug nach Tibet!

Zum Abflug des Abtes haben sich viele hohe Würdenträger auf dem Flugplatz eingefunden, Regierungsbeamte in Uniform und Lamas in gelben und roten Gewändern. Sogar Tschu Enlai, Mao Tsetungs Außenminister, ist da. Tom in Weiß, seinen frisch geweißten Tropenhelm auf dem Kopf, seine Pelzausrüstung über dem Arm. In die Maschine steigen außer dem Abt und Tom zwei Lamas und zwei Regierungsbeamte. Ein Lama spricht fließend Englisch, ein Regierungsbeamter auch Deutsch.

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Tom an der Gebetstrommel im Hof des Lamatempels

Gebetsmühlen gibt es nicht nur in Tibet, sondern auch im Hof des Lamatempels in Peking. Jede Umdrehung der großen, mit tibetanischen Zeichen bedeckten Bronzetrommeln gilt für tausend Gebete. Tom hat dem Abte eine geheimnisvolle Botschaft überbracht und wartet jetzt auf eine Antwort. Indessen läßt er die Gebetstrommel zehnmal kreisen. Kurz darauf hat er seine Antwort. Er darf mit dem Abt nach Tibet reisen.