Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

=========================================

Seite 20

Diener bringen Tee und einen großen Lackholzkasten, der viele Fächer hat. Darin sind Süßigkeiten, kandierte Früchte, Ingwer und Leitschies. An der Decke bewegt sich geheimnisvoll ein großes Tuch hin und her und erfüllt den Raum mit einem angenehmen Luftzug. Sie trinken ihren Tee und unterhalten sich mehr mit Verbeugungen und freundlichen Mienen als mit Worten. Ob Tom wohl die Leitschies möge, die es nur in der Provinz Kwangtung gibt, und ob er schon mit Stäbchen essen könne, fragt der Hausherr Wang auf Chinesisch. "Frag ihn, wann wir weiterreisen können", bittet Tom, aber darauf geht Wang überhaupt nicht ein. Der Hausherr entschuldigte sich, daß er dringender Geschäfte wegen nicht mit ihnen essen könne. Er steht auf und zieht sich in das Arbeitszimmer zurück. Ein Diener folgt ihm. Andere Diener tragen nun auf dem großen runden Tisch das Essen auf, viele, viele kleine Schüsseln mit Suppen, Fisch=, Fleisch= und Gemüsegerichten. Zuletzt stellen sie vor Wang und Tom je eine Schale Reis und legen Porzellanlöffel für die Suppe und Stäbchen aus Elfenbein daneben. Nur ein Diener bleibt im Raum. Er ist bereit, aus einem dampfenden Holzkübel Reis nachzufüllen. Die Jungen langen tüchtig zu, mit dem Eßlöffel in die Suppenschüsseln und mit den Stäbchen in vierundzwanzig andere Gerichte. Die Schüssel mit Hummerfleisch wird halb geleert, aus den andern nehmen sie nur einige Häppchen. Sie haben Mühe, ihre Reisschale zu leeren, wie es die Höflichkeit verlangt. Die Schüsseln mit den Resten gehen in die Küche zurück. In den 13 Räumen des Hauses gibt es ja auch noch andere Esser. Nun ist der letzte Diener hinausgegangen. Tom schaut sich nach allen Seiten um, bevor er Wang leise fragt: "Warum hast du ihn nicht nach der Weiterreise gefragt?" Wang antwortet ernst: "In China ist es sehr unhöflich, jemand zur Eile zu drängen." Dann setzen sie sich im Innenhof auf die Mauer, die den Goldfischteich umgibt. Die dicken Goldkarpfen schwimmen träge darin herum oder stehen regungslos im Schatten der großen Lotosblätter. "Man sagt in China, solche Goldfische würden über hundert Jahre alt", erzählt Wang. Aber er scheint selbst nicht recht daran zu glauben. Tom möchte lieber frei wie ein Seefisch sein. Er schaut sehnsüchtig über die Dächer des Innenhofes. Nur an einer Seite ragen die Dächer von Nachbargebäuden herüber. Sonst ist nur ein viereckiges Stück Himmel zu sehen. Die ganze Wohnanlage ist von einer hohen Mauer umgeben. Kein einziges Zimmer hat ein Fenster, welches nach außen führt. Es gibt nur eine Tür, und die bewacht der Kaimendi.

.

Langeweile und Zeitvertreib

Der Hausherr läßt sich nicht wieder sehen. Keine Frau, keine Kinder scheinen hier zu leben. Tom möchte weitere Räume des Hauses kennenlernen, will aber nicht wieder unhöflich sein. Als Gäste des Hauses können sie die Ahnenhalle jederzeit betreten. Sie ist ein Durchgangsraum zum hinteren Hof. Aber sie enttäuscht Tom. Sie ist ein Raum wie Gast= und Empfangszimmer auch, nur größer und höher, dunkler und leerer. Sie enthält nichts als den Altar, einen schlichten Tisch, auf dem die Ahnentäfelchen aufgestellt sind, schlichte Holzbrettchen mit den Namen teurer Verstorbener. An der Wand dahinter hängt ein auf Seide gemaltes Bild eines erlauchten Ahnen, rechts und links davon Spruchbilder: je vier chinesische Schriftzeichen, mit schwarzer Tusche auf rote Seide gemalt. "Kannst du das lesen?" fragt Tom. Wang zeigt mit dem Finger auf die einzelnen Bildzeichen und liest: Kin yü man tang Goldfische füllen den Teich Kin yü man tang Gold, Edelsteine füllen die Halle. "Bitte, noch mal!" sagt Tom. Wang liest noch mal. "Aber du sprichst zweimal dieselben Wörter, und die Bildzeichen rechts und links sind verschieden!" "Das ist das Geheimnis der chinesischen Sprache.

.

Dasselbe Wort, mit einem andern Ton gesprochen, hat eine andere Bedeutung. Die Nordchinesen haben vier, wir Kantonesen neun verschiedene Töne. Yü kann Fisch heißen; mit einem leicht veränderten Ton gesprochen bedeutet es aber auch Edelstein oder Edelsteine. Tang heißt - mit verschiedenem Ton gesprochen - entweder Teich oder Halle!" "Wer das lernen will, muß wohl sehr musikalisch sein", meint Tom. "Anders ist es mit unserer Schrift. Ihre Zeichen sind eindeutig. Es sind Bilder. Sieh her! Dieses Zeichen Tang ist eine Halle = der Fußboden, das Zimmer und ein Dach." Tom staunt. Solange er nichts Besseres zu tun hat, will er diese beiden Sprüche lernen. Die Aussprache und die Schrift. Kin yü man tang. Kin yü man tang. Er läßt sie sich von Wang so oft vorsprechen und vorschreiben, bis er sie kann. Nicht nur mit Bleistift, zuletzt auch mit Pinsel und Tusche, die sie im Schreibzimmer finden. Der Hausherr ist nicht mehr in diesem Zimmer. Ob er das Haus verlassen hat? Als sie in ihr Zimmer zurückkehren, liegen ihre Uhren auf ihren Betten. Es ist schon nach 17 Uhr. Bald wird es dunkel werden. "Und dann...?" fragt Tom. "Dann werden wir mit den Hühnern zu Bett gehen. Elektrisches Licht gibt es in chinesischen Dörfern nicht. Die Öllampen brennen allzu trübe ..." Der Diener ruft sie in den Speiseraum an den gedeckten Tisch. Nun sind es dreißig Gerichte. Das leckerste sind Bambusschößlinge und gebratene Haut vom Spanferkel. Sie trinken einige Gläschen lauwarmen Reiswein dazu. Um halb sieben liegen sie auf den Bambusmatten ihrer Diwane. Der Mond scheint in den Innenhof. Ab und zu bellt in der Ferne ein Hund. Sonst ist es ganz still. Tom sagt noch immer die Sprüche vor sich hin. Kin yü man tang. Kin yü man tang. Wenig später liegen beide Jungen in tiefem Schlaf.

Nächtliche Überraschung

Heftiges Klopfen an der Außentür und laute Rufe "Kaimendi! Kaimendi!" bringen die Dienerschaft des ganzen Hauses auf die Beine. Auch Tom und Wang liegen horchend wach. Jemand eilt mit einer Sturmlaterne über den Innenhof, in den der Mond noch lange Schatten wirft. "Ich glaube", sagt Wang freudig erregt, "wir werden..." "Ihr seid frei!" Der Hausherr steht plötzlich mitten in ihrem Zimmer. Die Sturmlaterne des nachfolgenden Dieners wirft gespenstische Schatten auf sein Gesicht. Auch zu dieser nächtlichen Stunde trägt er seine dunkle Brille. "Ihr müßt sofort aufbrechen! Meine Sänftenträger sollen euch an den Ostfluß bringen. Von dort könnt ihr mit einem Flußboot bequem weiterreisen." Die Jungen springen von ihren Betten auf. "Nun paßt gut auf, was ich euch sage! Wenn ihr bis an den Fluß mit keinem Menschen sprecht, niemanden fragt, wie die Orte am Wege heißen und niemandem sagt, woher ihr kommt, so sollt ihr für eure Unbequemlichkeiten jeder 300 Dollar haben. Nur eine Bedingung müßt ihr noch erfüllen: Bis der Tag anbricht, müßt ihr wieder eine Augenbinde tragen. Ich werde sie euch selbst anlegen.

.

  Bildrückseite 24