Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

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Alle Straßen und Kanäle sind schachbrettartig angelegt, die meisten Häuser nur einstöckig. Auf den blaugrauen Ziegeldächern gibt es keine Schornsteine. Der Rauch der Essensfeuer steigt durch offene Türen über den Straßen auf. Eine schnurgerade, sehr enge Straße läuft genau nach Süden bis an die Südmauer. Dort liegt neben einer andern Pagode, in einem dunklen Hain, der Konfuziustempel der Stadt. Unten frißt der Esel das spärliche Gras, das zwischen verfallenen Häusern auf Ruinengrundstücken wächst. Das sind hundertjährige Ruinen, Spuren der Taipingrebellion. Tom hat keine Lust, den vier Kilometer entfernten Konfuziustempel auch noch anzureiten. In den Schachbrettstraßen kann er sich auch ohne Führer zurechtfinden. Er entlohnt den Eseljungen und bummelt zu Fuß zum Bahnhof zurück. In vielen der offenen Häuser sitzen Frauen und Mädchen in haushohen Heimwebstühlen. Laut tönt das Geklapper der Weberbäume. Wenn Tom stehenbleibt, ergreifen die Weberinnen meist die Flucht. Der Eseljunge, der ihm immer noch folgt, photographiert Tom auf einer Weberbank.

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Nanking. Zu guter Letzt hätte Tom beinahe noch den Zug verpaßt. Die Rückgabe seines Gepäcks bei der Aufbewahrung dauerte Ewigkeiten. Das wäre eine schöne Geschichte gewesen, sein Vater zum verabredeten Zug auf dem Bahnsteig, und Tom noch einmal verlorengegangen. Er schwitzt nicht wenig, als er wieder einen Platz gefunden hat und sich über seinen Eßkorb hermacht. Drei Stunden am Kaiserkanal entlang. Oft trennt nur der mit Steinplatten belegte Treidelpfad den Wasser= und den Schienenweg. Weiß leuchtende und zerrissene schmutzige Dschunkensegel blähen sich im Wind. Meisterwerke uralter Baukunst sind die Granitbrücken, die den Kanal überspannen und den Schiffen halbmondförmige Durchfahrten freilassen. Allerdings haben die alten Brückenbauer noch nicht an beräderte Fahrzeuge gedacht. Über die Stufen der Brückenbögen gingen Jahrhunderte lang nur Fußgänger, Träger trugen Sänften hinüber. Jetzt versuchen auch Rikschas hinüberzufahren. Für Autos müssen breitere Brücken gebaut werden. Tom sieht immer häufiger auf seine Uhr. Zwei Stunden vor Nanking biegt der Kanal zum Jangtse hin ab.

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Die Landschaft wird wieder hügelig. Auf dem Gipfel fast jedes Hügels ist ein Familiengrab. Viele noch nicht beigesetzte Särge stehen dazwischen an den Hängen. Die Chinesen lieben es, auf eigenem Grund und Boden begraben zu werden. Zweimal sieht Tom, wie rotlackierte Särge, unter einer langen Bambusstange hängend, über schmale Feldwege getragen werden. Den einen Sarg tragen acht, den anderen sechzehn buntuniformierte Träger. Weißgekleidete Trauernde folgen im Gänsemarsch hinterher. - 17 Uhr! Noch eine Stunde! Für einen Augenblick gibt das hügelige Gelände den Blick auf den mächtigen Jangtsekiang frei. Tom weiß, daß der Fluß bei Nanking noch mehr als fünf Kilometer breit ist. Schon zwanzig Minuten vor der Ankunft wird die fünfzehn Meter hohe Stadtmauer der Millionenstadt sichtbar. Nanking ist eine der wenigen Städte Chinas, deren Mauer keine regelmäßig rechteckige Form hat. Die Mauer folgt See= und Flußufern, schließt Hügel ein oder läuft über Hügelkämme. Auf diese Weise hat Nanking die längste Stadtmauer in China. Mehr als fünfzig Kilometer ist sie lang! Der Hauptbahnhof liegt unmittelbar unter der Mauer am Löwenhügel. Als Tom und sein Vater sich auf dem Bahnsteig umarmen, vergoldet die Abendsonne die wehrhaften Zinnen. Mit einem Autobus fahren Vater und Sohn zum Hotel International. Es liegt ungefähr in der Mitte der Stadt an der Sun=Yatsen= Straße, einer breiten, doppelbahnigen Autostraße, die quer durch die ganze Stadt führt. Tom wundert sich, daß innerhalb der Mauern soviel freies Feld ist. "Hat man hier früher in Zeiten der Belagerung Reis gebaut oder sind die Häuser alle von den Taipings zerstört worden?" fragt er seinen Vater. "Darauf wird dir Herr Lebetanz, ein deutscher Journalist, nach dem Abendessen die Antwort geben. Ich habe ihn zum Essen eingeladen, und er hat mir versprochen, dir von der Geschichte Nankings zu erzählen. Rechts kommt gleich das Hotel. Wenn du Lust hast, fahren wir mit diesem Bus noch bis an den Ostrand der Stadt und zurück. Dann siehst du auch gleich das engbebaute Geschäftsviertel und den Palastgarten der alten Mingkaiser.

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