Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

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Seite 44

Sehen nicht alle Polizisten an den Straßenkreuzungen ihn mit besonderen Augen an? Schon auf dem Wege zum Nordhotel, im Stadtteil der fremden Gesandschaften, kauft Tom sich einen Stadtplan. Sein Vater ist nicht im Hotel. Erst zum Abendessen wird er heimkommen. So hat Tom endlich Gelegenheit, sich hinter einer verschlossenen Tür das anzusehen, was der Gelbe Lama ihm gegeben hat. Das Einwickelpapier ist eine Pekinger Zeitung in englischer Sprache. Ein Artikel ist rot angestrichen. Die Überschrift heißt: Gelbe Lamas gegen eine Vereinigung von Tibet und China - Die Flucht eines Verschwörers. Tom sieht noch einmal nach, ob er den Zimmerschlüssel auch wirklich umgedreht hat. Wird er nicht selbst ein Verschwörer, wenn er den Hut in den Tempel bringt? Der Hut! Eigentlich ist es eine Mütze, eine ledergefütterte Wollmütze, die aber durch einen hochstehenden mähnenartigen Kamm hutartig wirkt. Das Lederfutter ist schmutzig und fettig. Tom wagt nicht, die Mütze aufzusetzen. Aber knistert nicht Papier darin? Sollte da eine Nachricht eingenäht sein? - Der Rand des Amuletts ist mit einer Perle und drei perlengroßen Edelsteinen besetzt: jadegrün, topasbraun und rubinrot. Ein Stein fehlt. Offensichtlich hat er sich aus dem Ton gelöst. Hat Tom ihn schon verloren? Eilig wickelt er alles wieder ein und verbirgt es in seinem Koffer. Seinem Vater will er nichts davon sagen. Abends freut dieser sich, daß Tom wieder da ist. Aber er ist wortkarg. Seine geschäftlichen Besprechungen sind noch nicht einmal in Gang gekommen.

 

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Im Lamatempel

Das Nordhotel liegt an der breiten staubigen Hatamenstraße, die, fast sieben Kilometer lang, schnurgerade vom Himmelstempel in der Chinesenstadt bis zum Lamatempel an der Nordmauer der Tatarenstadt führt. Wenn man sie mit der Rikscha entlangfährt, sperren hölzerne Pailus (Ehrenbogen) die Sicht. Bei jedem Pailu und jeder Straßenkreuzung steht ein Polizist, der sich alle Passanten genau ansieht. Tom klopft das Herz. - Die "Lamaserei des ewigen Friedens", eine ehemalige kaiserliche Residenz, wurde von einem Mandschukaiser, der zum Lamaglauben übertrat, den Lamas geschenkt. Sie besteht aus vielen Hallen und Pavillons. Gelb glasiert sind die Dächer der Hauptgebäude. Ein Tor steht weit auf, Lamas strömen herein. Auf einem weiten gepflasterten Hof warten Hunderte von Mönchen auf das Zeichen zur Morgenandacht. Kindliche Novizen spielen wie Jungen auf einem Schulhof herum. Nur ein kleiner Teil der Lamas trägt gelbe Gewänder, die meisten sind rotgelb oder ziegelrot gefärbt. Tom weiß nicht, an wen er sich wenden soll. Keiner der Lamas trägt die gelbe Mütze. - Da ertönt das Zeichen zur Andacht. Die Töne von Pauken, Becken und Seemuschelschalen mischen sich zu einer durchdringenden, überirdischen Harmonie. Die Lamas ordnen sich zu langen Reihen und schreiten in die Gebetshalle hinein. Sie knien nieder. Vor einer Buddhastatue mit gelber Mütze thront der Abt. Mit einem Pfauenwedel gibt er das Zeichen zum Gebet. In die lautlose Stille bricht von neuem der Ton der Becken und Muscheln.

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Dumpf dröhnt dazu der Chorgesang der Mönche. Ihre verzückten Gesten verraten, daß sie in eine andere Welt eingegangen sind. - Wieder Stille. Lautlos schreiten die Lamas hinaus. Tom tritt vor den Abt hin, der noch verzückt auf dem Thron sitzt. Er scheint Tom überhaupt nicht zu sehen. Da zieht Tom den gelben Hut unter seiner Jacke hervor. Wie elektrisiert springt der Abt auf. Er bedeutet Tom, ihm in die Haupthalle zu folgen. Niemand ist darin. Sorgfältig verriegelt der Abt von innen die Tür. Toms Augen müssen sich an das Halbdunkel gewöhnen. Nur oben fallen einige Lichtstrahlen ein. Die Mitte des Raumes ist über zwanzig Meter hoch. Fast bis unter das Dach ragt eine große stehende Buddhafigur durch mehrere Stockwerke von Galerien auf. Es ist nicht der dicke lächelnde Buddha. Ernst schauen seine Augen in die Welt. Der Abt kann seine Erregung kaum verbergen. Fast entreißt er Toms Händen den Hut. Mit einem Griff hat er das verborgene Papier in der Hand. Er überfliegt das Geschriebene. Dann ist er wieder der würdige Abt. Aus einem Geheimfach des hölzernen Riesenbuddha entnimmt er eine kleine tönerne Buddhafigur und überreicht sie Tom mit einer tiefen Verbeugung.

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