Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

=========================================

Seite 52

An diesem Nebenfluß des Brahmaputra liegt die heilige Stadt Lhasa, nur noch zwei Tagesritte weiter nach Südwesten. Die Straße im Flußtal ist mit großen Felssteinen gepflastert. Neben reitenden und wandernden Pilgern gibt es auch viele Büßer, die jeden Kilometer des Weges mit ihrer Körperlänge ausmessen. Ihr Gesicht nach Lhasa gewandt, liegen sie für eine Gebetslänge mit dem Bauch auf der Erde, schreiten dann um eine Körperlänge vor und legen sich wieder hin: ungezählte Male. Jahrelang sind sie so unterwegs. Ihr einziges Gepäck ist ein Beutel mit Tsamba. Mitleidige Pilger geben ihnen Gerstenmehl und Butter als Almosen. Für Tom und seine Freunde ist die Herberge in Medukongkar die letzte vor Lhasa. Frühmorgens besteigen sie ohne die Soldaten zwei Jakhautboote, die mit der starken Strömung des Flusses in sechs Stunden nach Lhasa hinabtreiben. Stellenweise ist das Flußtal breit, und die Ufer sind sandig. Hier gibt es Gerstenfelder und Bewässerungskanäle unter Pappeln und Weidenbäumen. Oft aber verengt sich das Tal. Die bläulichen Felsen treten unmittelbar an die Ufer des Kjitschu heran und verursachen gefährliche Wirbel und Strudel. Tom muß ganz still sitzen und sich ducken, um den steuernden Bootsmann nicht zu behindern.

.

Auf ruhigerem Wasser singen die Bootsleute. Sie haben wie die meisten Tibetaner ein offenes, fröhliches Wesen. Sie lachen gern. Als Herr Wu beim Einsteigen in das Boot ins Wasser kippte, wäre sein Bootsmann vor Lachen fast selbst hineingefallen. - Von den nahen oder fernen Randbergen des Tales leuchten weiße und rote Mauern und vergoldete Dächer zahlreicher Tempel und Klöster. In den blockförmigen Gebäuden sind oft drei und vier Reihen von Fenstern übereinander. 400 000 Mönche und 5000 Klöster sind über das weite Land Tibet verstreut. Nirgends aber häufen sie sich so wie im Bereiche der Hauptstadt. Um die Mittagsstunde liegt Lhasa vor den Reisenden im Boot. Breit und flach duckt sich die Stadt in die weite pappel=, wiesen= und lotosgrüne Talebene. Wie Kulissen rahmen bläulich=kahle Felsenberge die Mitte des Bildes ein: den Potala, die Burg des Dalai Lama, die sich auf einem Hügel über die Stadt erhebt. Blendend weiße und rote Mauern, zwölf Reihen von Fenstern übereinander. Darüber goldene Dächer unter einem strahlend blauen Himmel! Tom ist hingerissen von diesem Anblick. Dorrtsche und der Abt verneigen sich und murmeln ihr immer wiederkehrendes Gebet: Om mani padme hum. Om mani padne hum! Heil, du Juwel in der Lotosblüte! Die Stadt Lhasa hat keine Mauern. Flachgedeckte Häuserblocks ziehen sich bis an die grünen Ufer des Flusses hin. An der Anlegestelle für die Boote sind unter schattigen Weidenbäumen viele hohe Würdenträger versammelt, um die Ankommenden zu begrüßen, Äbte und Lamas in roten und gelben Gewändern, Chinesen in Ischangs und Uniform. Tiefe, immer wiederholte Verbeugungen zwischen jedem und jedem, aber kein Händedruck von Mann zu Mann. Herr Wu und der andere chinesische Beamte werden in das Haus der chinesischen Gesandtschaft geleitet. In einer Sänfte folgt Tom dem Abt und Dorrtsche in das Kloster der Gelben Lamas. In den engen Straßen drängen sich Tausende von Mönchen und Pilgern. Riesenlange, stimmgewaltige und mit Peitschen bewaffnete Klosterpolizisten schreiten den Sänften voran und bahnen ihnen einen Weg. Immer wieder rufen sie die Titel und Namen der hohen Gäste laut aus.

.

  Bildrückseite 76