Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

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Tausende verneigen sich oder gaffen mit geöffneten Mündern den Sänften nach. Tom fühlt, daß ein Weißer in dieser Stadt immer noch eine Seltenheit ist. In den Ladenstraßen des Basars müssen die Polizisten von ihren Peitschen Gebrauch machen; ihre Stimmen reichen nicht aus, das Menschengewimmel zu zerteilen. Mongolen und Nepalesen, Mandschus, Chinesen und Bhutanesen, Türkis aus Kansu und Sinkiang, Lolos aus Südwestchina und Tibetaner aus allen Teilen des Landes drängen sich hier um die Verkaufsstände. Im Kloster wird Tom wieder mit Dorrtsche zusammen untergebracht. Ihre saubere Zelle liegt im dritten Stock des Hauptgebäudes. Die Aussicht vom Fenster geht über die flachen Dächer der Nachbargebäude auf den Potala, der mit über hundert Meter Höhe und einer fast vierfachen Breite riesenhafter ist als irgendein Königspalast in Europa. Tom möchte jauchzen, so glücklich fühlt er sich, daß ihm ein solcher Anblick vergönnt ist. Aber Dorrtsche dämpft seine Freude schon im ersten Augenblick, indem er Tom geheimnisvoll zuflüstert: "Vielleicht müssen wir beide schon in wenigen Tagen den weiten, beschwerlichen Rückweg nach China antreten.

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Unser Abt hat wichtige Nachrichten an die Gelbmützen in China zu senden." So nutzt Tom jede Stunde, um das Leben in dieser unbekanntesten Hauptstadt der Welt kennenzulernen: die Straßen und die Basars, die Klöster und Mönchsschulen, die Paläste und Gärten tibetanischer Adeliger und die schaurige Leichenzerstückelung auf einem Berghang in der Nähe der Stadt. Die Tibetaner mit ihrem Glauben an eine Seelenwanderung fürchten den Tod nicht und werfen ihre Toten den Aasvögeln zum Fraß vor. Mittelalterlich muten Tom die Waffenübungen der tibetanischen Armee an. Mit Leopardenfellen angetan, mit Pfeil und Bogen oder mit Vorderladern bewaffnet, jagen sie auf ihren schnellen Ponies einzeln oder in Gruppen über den Kampfplatz und schießen nach aufgehängten Zielscheiben. In Begleitung des Pekinger Abtes darf Tom die Höfe und Bauwerke des Potala besichtigen. Ganz unglaublich sind die Mengen von purem Gold, die zum Schmuck der Buddhafiguren, Grabmäler und Dächer verwendet worden sind. Das Grabmal des XII. Dalai Lama, das mehrere Stockwerke aufragt, ist von über tausend Kilogramm Gold bedeckt. Von Dorrtsche erfährt Tom, daß die Tibetaner bisher nur den Goldstaub ihres Landes gesammelt haben. Aus religiösen Gründen lasse man die Goldklumpen in den Flüssen und Seen unberührt liegen! "Aber im Kampf um die Erhaltung unserer Lamakirche werden wir die Goldklumpen doch angreifen", fügt Dorrtsche vielsagend hinzu. An einem durch das Horoskop bestimmten Tag wird Tom mit Dorrtsche zusammen vom jungen Dalai Lama selbst empfangen. Nicht in der Potala, sondern in der Sommerresidenz des Gottkönigs, im Juwelenpark. Dabei müssen sie die Vorschriften tibetanischer Höflichkeit genau beachten. Tom kommt es so vor, als sei die Zahl der Höflichkeitsregeln hier noch größer als in der Lehre des Konfuzius.

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Vor einer riesigen vergoldeten Buddhastatue sitzt der Dalai Lama mit untergeschlagenen Beinen auf dem Samtkissen des goldenen Thrones in der halbdunklen Thronhalle des Juwelengartens. Er trägt die gelbe Spitzmütze des Tsongkhapa und erteilt mit einem langen goldenen Zepter den Segen für Tausende von Pilgern und Mönchen, die in langer Prozession, tief gebeugt, verzückt oder zitternd, vor seinem Thron vorüberziehen. Ein jeder bringt dem Dalai Lama eine Gabe dar. Dorrtsche hat für Tom einen kostbaren weißen Seidenschal gekauft. Den breitet er nun über die Knie des Heiligen und legt Gerstenbrot und Butter hinein. Der Dalai nickt Tom freundlich zu und legt ihm eine Hand segnend auf das Haar. Auf diese Weise hat der Dalai Lama schon ein paar andere Europäer gesegnet, aber noch nie einen, der so jung war wie er selber. Tom fühlt die warme Hand, er sieht noch einmal in die freundlichen Augen des Gottkönigs, dann wird er weitergeschoben. Ein Thronbeamter legt als Gegengabe des Dalai einen purpurnen Seidenschal um Toms Hals. Gleich am nächsten Tage treten Dorrtsche und Tom die Rückreise nach China an. Der Pekinger Abt, der fast alle Tage zu geheimen Verhandlungen im Potala gewesen ist, schenkt Tom zum Abschied etwas ganz

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