Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

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Seite 59

Strandstreifen leuchten weiße Fischersegel auf dem dunkelblauen Meer. Landwärts aber ist ein Meer von blaßroten Blüten. Über alle Gärten und Hänge flutet die rosa Pracht. Noch hat das Grün der Blätter sich nicht entfaltet, fahl sind die Berghänge, aber die Zweige der Sakura strotzen vor üppigen Blüten. Alle Gesichter der Mitreisenden sind von einem Glanz erfüllt. Sie nicken Tom freundlich zu: "Kannst du, fremder Jüngling, auch dieses Wunder begreifen?" Jung und alt verneigen sich vor der Blütenpracht, und Tom tut ein gleiches. In Obama liegt über dem Blütenmeer und den geschwungenen Dächern eines mächtigen Tempels der Dunst, der von heißen Quellen aufsteigt. An der großen Autobusstation warten Hunderte von Menschen in hellen Badekimonos auf eine Rückfahrgelegenheit. "Ende Station", sagt die freundliche Schaffnerin in gebrochenem Englisch zu Tom, der als einziger noch auf seinem Platz sitzt. Sie reicht Tom eine Hand, um auch ihm aus dem Bus zu helfen. Tom verneigt sich, so schnell hat auch er das Gebaren japanischer Höflichkeit gelernt. "Du mußt umsteigen", sagt sie in ihrem stockenden Englisch und deutet auf einen anderen, zur Abfahrt bereitstehenden Omnibus.

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"Bist du Tom Birkenfeldt?", ruft plötzlich eine Männerstimme dazwischen. Ein europäisch gekleideter Herr steht vor Tom. "Ich bin Nakamura=san, der Freund deines Vaters. Die fürsorgliche japanische Polizei hat schon heute morgen aus Nagasaki bei mir angerufen und deine Ankunft angekündigt. Willkommen! Wir fahren zusammen nach Unzen hinauf." Herr Nakamura schüttelt Tom die Hand. Dieser bedankt sich mit tiefen Verbeugungen. Eine so aufmerksame Polizei hat er bisher in keinem Lande kennengelernt. Von der Bergstraße zeigt Nakamura=san noch einmal zurück auf das Blütenmeer von Obama. "Eine bessere Zeit hättest du, Tom, dir für deine Ankunft nicht aussuchen können. In diesen Tagen der Kirschblüte wird jeder Japaner ein Dichter. Auch unser Kaiser Hirohito hat gestern ein Gedicht auf die Kirschblüte gemacht. Es stand heute morgen in allen japanischen Zeitungen, und ich habe es dir zu Ehren übersetzt, so gut ich kann.

"Seh ich in der Ferne unten auf der Erde Wolken ziehn?

Blütenwolken sind's des Kirschbaums,

zwischen Kiefern dort sie blühn."

Ein richtiges japanisches Tanka oder Kurzgedicht ist ohne Reim; es muß genau 31 Silben haben. In meiner Übersetzung sind es nur 30, sonst kam es mit dem deutschen Rhythmus und Reim nicht aus. Auf einer breiten, hervorragend geplanten und gut unterhaltenen Bergstraße geht es in 40 Minuten auf 800 Meter Höhe hinauf, durch Reisfelder und dichte Kiefernwälder. Nach Osten zu ist über der inselreichen Schimabarabucht für einen Augenblick die 180 km entfernte Rauchfahne des Aso=Vulkans zu sehen. Noch ein dunkler Kiefernwald, dann liegt Unzen, das Schwefelbad, vor ihnen: hölzerne Familienhäuschen mit Blechdächern, mehrstöckige in Holz und Stein gebaute Hotels, Badehäuser, Tempel. Vor dem Hintergrund noch kahler, höherer Berge steigen wohl ein Dutzend weißer Rauchfahnen von den Schwefelquellen auf. Tom schaut aus seine Armbanduhr und kriegt einen Schreck. Der Silberrand der Uhr ist ganz schwarz geworden. "Die Schwefelluft macht das Silber schwarz", lächelt

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