Aus dem Sanella-Album China Tibet Japan

=========================================

Seite 62

Augenblick abwarten, um bis an den Rand des Kraters vorzudringen. Dann wollen sie in dem Rasthaus die Nacht verbringen, um auch einen nächtlichen Ausbruch mitzuerleben. Bei einer Tasse Tee beobachten sie mehrere Stunden den "Atem" des Vulkans. Alle halbe Stunde erhebt sich ein gewaltiges unterirdisches Donnern und Brodeln, einige Zeit darauf pufft eine dunkle Wolke empor, die mit blendend weißem Wasserdampf und giftig gelben Schwefeldämpfen vermischt ist. Etwa dreißig Sekunden später setzt dann der Aschenregen ein. Bald wissen sie, wie sie ihre Zeit einteilen müssen, um in "Atempause" bis an den Rand vorzudringen. Auch Sumiko=san, die sich ein Tuch um den Kopf gewickelt hat, schließt sich den Männern an. Der rissige Lavaboden nimmt das Schuhzeug arg mit. Er scheint unter ihren Füßen zu beben. Sumiko=san bleibt zehn Meter vom Rand entfernt zurück. Die Männer aber gehen bis hart an die Abbruchkante vor und blicken hinab in die brodelnde Tiefe. Seitwärts sind viele Schichten ausgebrannter Lavamassen zu erkennen, helle und dunklere, rötliche und schwärzliche. Unheimlich ist die augenblickliche Stille, fürchterlich die Hitze.

.

Der Schwefeldampf beißt in die Nase und verschlägt Tom fast den Atem. Bei einem plötzlichen heftigen Grollen geht er unwillkürlich einen Schritt zurück. Später wagt er es, auch bei einem Auspuff unmittelbar am Rand stehenzubleiben. Dabei kann er weder Herrn Nakamura noch Sumiko=san sehen. - Überwältigend ist der Anblick eines Ausbruches bei Nacht. Die feurigen Gluten in der Tiefe lassen die Dampfwolke hell aufleuchten; der Widerschein der Wolke aber erhellt das riesige Gestein am Kraterrand. - Trotz des immer wiederkehrenden donnerartigen Grollens und Aufblitzens und ungeachtet des Aschenregens auf dem Blechdach des Rasthauses sind die Nakamuras und Tom frisch und ausgeschlafen, als sie vor Tagesanbruch geweckt werden, um das Schauspiel eines Sonnenaufganges zu erleben. Wie der rote Ball in der japanischen Flagge erhebt sich die Sonne aus dem weißen Nebelmeer. Nach zweistündiger Wanderung bergab sind sie zum Frühstück in Toschita, einem einzigartigen Badeort am westlichen Fuß des Aso-Massivs. Unter dem rauschenden Bambusdickicht eines Berghanges plätschert ein kühler Wasserfall in ein großes Freischwimmbecken, das jahraus, jahrein mit dem Wasser heißer Quellen gefüllt ist. Sogar eine Wasserrutschbahn gibt es in dem Becken. Bald nach Mittag müssen sie aufbrechen - leider! - der weite Weg zurück nach Unzen mit Eisenbahn, Schiff und Autobus läßt sich sonst bis zum Abend nicht mehr schaffen. Herr Nakamura muß morgen früh wieder im Dienst, Sumiko=san in Kumamoto in der Schule sein. Auch von ihr trennt Tom sich ungern. Sie war ihm ein guter Kamerad. - Zwei Wochen später kommt sie zum Wochenende nach Hause. Nun ist Tom kein Fremder mehr in Unzen und seiner Umgebung. Er hat die Hochzeit der Kirschblüte auf den malerischen Amakusa=Inseln erlebt und eine Fahrt nach dem Kirischima=Berg in Südkuischiu gemacht. Die Kraterlöcher dieses erloschenen Vulkans und ihre kahle Umgebung kommen ihm wie eine Nordlandschaft vor. In ihrer Nähe ist der Geburtsplatz des Jimmu=Tenno, des ersten japanischen Kaisers, den das Volk als Urenkel der Sonnengöttin Amateratsu verehrt. Von ihr überkamen ihm Spiegel, Schwert und Juwelen als die drei Kleinodien des Reiches, die sich bis heute auf die Nachfolger vererbt haben. Jimmu=Tenno bestieg im Jahre 660 v. Chr. den Thron; der gegenwärtige Kaiser Hirohito gilt als sein 124. direkter Nachkomme. Im Jahre 1940 feierten die Japaner die 26oojährige Wiederkehr ihrer Reichsgründung. Dabei wurde Hirohito noch als Gott=Kaiser verehrt. Nach der Niederlage Japans 1945 aber erklärte Hirohito in einer Rundfunkansprache an das japanische Volk, daß er seiner Göttlichkeit entsage. Das Volk möge den Kaiser fortan als einen Menschen seinesgleichen ansehen und nicht mit abgewendetem Blick in tiefer Verbeugung verharren, wenn der Kaiser durch die Straßen fahre oder reite. Am Schrein des Jimmu=Tenno in Kirischima aber verbeugen sich die Japaner auch heute noch in der Verehrung eines Gottes. Nach dieser Reise drängt es Tom, nach Tokio zu kommen, um dort den Kaiserpalast und, wenn möglich, den entgotteten Kaiser selbst zu sehen. Bald danach ist ein Brief von seinem Vater aus Tokio da. Vater Birkenfeldt hat seine neue Stellung als Leiter der Elektrofirma angetreten und auch eine Familienwohnung gefunden. Die Mutter ist schon an Bord eines Dampfers nach Japan. Ende Mai wird die ganze Familie in einem Haus in Schibuya, einem Vorort von Tokio, vereinigt sein. Nach der Beschreibung des Vaters muß das Haus dem Nakamuroschen in Unzen recht ähnlich sein. Zwei Tage später fährt Tom nach Unzen ab. Der Expreßzug legt heute in 29 Stunden die Strecke von Nagasaki nach Tokio zurück, für die Engelbert Kämpfer 1691 zu Pferde, mit der Sänfte und im Schiff genau einen Monat gebrauchte. Tom hat eine Schulausgabe von Kämpfers Reiseabenteuern in der Tasche; er hat sie mehrmals mit großem Interesse gelesen. Wie anders aber sieht das moderne Japan aus. In Nord=Kiuschiu fährt Tom fast eine Stunde lang durch das japanische "Ruhrgebiet": Zechen, Hochöfen, Eisen=, Stahl= und Walzwerke. Die vier Kilometer breite Wasserstraße zwischen Kiuschiu und der Hauptinsel Hondo, die Straße von Schimonoseki, ist seit einigen Jahren untertunnelt. Reisende von Nagasaki nach Tokio können die über 1300 km lange Strecke durchfahren, ohne auf eine Fähre umzusteigen. Zwischen Schimonoseki und dem großen, durch Bomben schwer mitgenommenen Hafen Kobe folgt die Bahnlinie meist am Südufer von Hondo. Herrlich sind die Ausblicke auf die Inselwelt der Inlandsee. Immer wieder geht die Fahrt durch Tunnels. Bei Mijajima steht ein großer rotlackierter Torbogen (Tori) im Wasser. Hiroschima ist wie Nagasaki schon weitgehend wiederaufgebaut. In den Millionenstädten Osaka und Nagoja ragen Wolkenkratzer und mittelalterliche Burgen über die im ganzen flach gebauten Städte hinaus. Hinter Nagoja zwingt der Bergriegel der japanischen Alpen die Bahnlinie scharf an das Südufer von Hondo. Hier verliert sich der Blick nach Süden auf die unendliche Weite des Großen Ozeans. Der schneebedeckte Gipfel des Fudschijama, des höchsten und heiligsten Berges Japans, taucht schon auf, als der Zug noch hundert Kilometer von seinem Fuß entfernt ist. Der Fudschi hat sich seit Kämpfers Zeiten nicht verändert. " ... 3800 Meter erhebt sich sein Gipfel. Die um ihn liegenden Gebirge scheinen nur niedrige Hügel zu sein. Seine Hänge steigen so gleichmäßig an, daß man ihn für den schönsten Berg der Welt ausgeben kann, obwohl er ohne Pflanzendecke und die meiste Zeit des Jahres fast völlig mit einem weißen Schneemantel bedeckt ist. Die Sommerhitze nimmt zwar vieles von dem Schnee hinweg, aber die oberste Spitze bleibt beständig weiß." Nachdem der acht Kilometer lange Tannatunnel und fünfzehn weitere kleine Tunnels durchfahren sind, tritt die Bahn bei Odawara in die einzige größere japanische Ebene ein. An der Bucht von Tokio liegen Japans wichtigster

.

  Bildrückseite 89